schluesselworte

schluesselworte
abgelegt und fortgegangen (c) Dieter Vandory

Mittwoch, 29. Februar 2012

schneeschmelze


/c/ dieter vandory, 2012







wir sollten nicht
über die brücke gehn
/nicht jetzt/

da sich der große winter löst
und einbricht ins vernarbte
flussbett mit der harschen
einsamkeit der berge

durch einen kleinen
frechen schritt geblendet
von der mittagssonne
könnten wir ab

rutschen und
stürzen
rettungslos
ertrinken aneinander
ineinander sieh nur

wie die gipfel lächeln


/c/ monika kafka, 2012

veröffentlicht federwelt, 02/12


Donnerstag, 23. Februar 2012

lippenland

/c/ dieter vandory, natürlich, abstrakt, 2012





spätsommer auf deinen lippen
spuren verwegener jahre
im unterholz der träume
ein verirrter vogel
zuweilen buschwindröschen
und johannisfeuer

deine zunge spricht rau
von brandigen nächten, reichlich
eingefahrenen ernten und
stoppelfeldern im dünnen licht
weiden wollige hoffnungen
erdnah und spröd

zieht der wind darüber hinweg
ohne zweifel auf ein morgen
das sich wölbt unter amors bogen
neugierig und in rot



/c/ monika kafka, 02/12

Dienstag, 14. Februar 2012

südpfad


Gast auf meinem Blog ist im Februar der Autor Sven Koether.
1967 im Taunus geboren und dort aufgewachsen, lebt er heute nach zahlreichen Reisen am Rande der Eifel.
Sven Koether schreibt Lyrik und Prosa. Manch einer seiner Texte fand bereits den Weg in eine breitere Öffentlichkeit, in Anthologien und Zeitschriften.
Sein Themenspektrum ist weit gefächert, sein Blick auf die Welt zeugt von großem Einfühlungsvermögen, er ist ein Meister der Zwischentöne. Seine Texte sind sowohl sprachgewaltig als auch leise, fast filigran. Und sie polarisieren nicht selten.
„Man kann nicht nur über Schönes schreiben“, sagt der Autor auf seinem Blog, „sonst bestünde die Gefahr, sich das Leben schön zu schreiben“.
Ich freue mich ganz besonders, dass er mir die Erlaubnis gegeben hat, in meinem poetischen Haus ein Gedicht zu präsentieren, das zu meinen absoluten Lieblingstexten zählt und das ich bei einer Lesung in Bochum vortragen durfte: südpfad


/c/ Dieter Vandory, 2012



ich gehe den südpfad                      
auf der suche nach cinderella und bachblüten
um mich zu heilen
vom durst der kindheit
und dem sturz auf die fontanelle
um die dinge zu sammeln
die man vergessen hat
bei der abwicklung erster lebensjahre

da gibt es dieses lied
gepfiffen vom faltenbedruckten mund des großvaters
es liegt dort am weg unter den scherben
der gläsernen stelzen die zerbrechen
jedes mal wenn der pfad sich biegt

oder einige schritte weiter
zwischen dem immergrünen gift der eiben
das lächeln der mutter und
ihre hand die vorsichtig in den korb voll wolle greift
als wäre eine schlange darin

und dort wo man schon den flüssigen horizont erkennt
der sich am ende des weges wie schwarzes wachs aufs land legt
finde ich die stimme eines vaters
und den gedanken
dass ein kuss das bessere ende einer jugend wäre

zur stunde des tanzes taucht der pfad unter
mir weg und ich finde mich wieder
am nächsten tag an dessen beginn
und ich gehe ihn erneut
auf der suche nach  cinderella und
bachblüten


/c/ Sven Koether, 2012



Mittwoch, 1. Februar 2012

Burgunder Notizen


/c/ dieter vandory, sonnenfänger & herzerwärmer, 2012




Ich glaube nicht an den Zufall.
Ich glaube an Begegnungen.
- Paul Claudel -











/à Bina/


Dies aufgerissene Land. Ächzend unterm sonnbestickten Julihimmel. Nichts als Hitze und Staub atmend. Eine einzige wabernde Wunde.
In den Weinbergen platzte die Süße aus den prallen Beeren. Das Laub verbrannte. Und Wortfetzen verdunsteten, kaum dass sie den trockenen Mündern entfallen waren.

Fiebernächte. Cassisumspült. Manchmal auch veredelt zum Kir Royal. Klebten auf der Haut und an den Giebeln der Fachwerkhäuser, während unter flammenden Dächern die Trägheit sich durch die Stadt und ihre Menschen schob.

Als der Himmel endlich auf die Erde gefallen war, stand sie am offenen Fenster. Die Wiese vor dem Studentenheim drohte zu ertrinken, die Bäume berauschten sich am Wind. Es krachte und gluckerte und schmatzte. Irrlichternd tanzte der filigrane Schein der Laternen durch die Dunkelheit.

Er aber kam mit dem Regen. Überraschend wie dieser, doch folgerichtig. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen.

Es klopfte. Sie erwartete niemanden mehr zu dieser vorgerückten Stunde. Vielleicht eine Kommilitonin, dachte sie, die noch Unterlagen braucht für die bevorstehende Übersetzungsklausur.
Sie öffnete, und die in Gedanken vorgeformten französischen Worte fielen in die kleine, sich vor ihren Augen ausbreitende Pfütze. Darin schwamm ein Paar Espadrilles, wie kenternde Schiffe, schoss es ihr in den Kopf. Ihr Blick glitt an durchnässten Hosenbeinen hoch, flog dann ihrem plötzlich rasenden Herzen hinterher. Stolperte über leicht geöffnete breite Lippen und fiel. Fiel ein in ein Dunkelmeer glänzender Augen, umrahmt von Brombeerhaar.
Ein Blitz schleuderte sein Sekundenlicht durchs Zimmer, und als die durchschnittenen Wolken wieder zusammenfanden, krachte die Tür ins Schloss.

Er stellte seinen vollgepackten Seesack ab, zog die durchnässten Schuhe aus. Sah sich suchend um und als er nichts fand, worauf sie hätten abgestellt werden können, legte er sie einfach außen aufs schmale Fensterbrett.
„Ist eh schon egal“, sagte er grinsend, als ihm ihr zweifelnder Blick begegnete.
Verschwand danach mit trockener Wäsche und einem T-Shirt im Bad. Er hat offensichtlich vor, zu bleiben, folgerte sie. Goss sich etwas Rotwein ein, der vom Abendessen übrig geblieben war, setzte sich aufs Bett und beschloss, nichts zu fragen. Viele, zu viele Fragen hatten ihn damals flüchten lassen. Unter anderem, ergänzte sie in Gedanken, und nahm einen Schluck. Als ihre Zähne ans Glas schlugen, merkte sie erst, dass sie zitterte.

Obwohl der Regen nachgelassen hatte, schwappte immer noch Kühle durchs geöffnete Fenster, legte sich auf ihre durch die Sonnentage aufgeheizte Haut, ich muss mir was anziehen, dachte sie, als sie sich ihrer nackten Arme und Beine bewusst wurde, und blieb einfach sitzen.
Das Brausen der Dusche von nebenan spülte ihre Gedanken rückwärts.

Eine Woche war es jetzt her, dass sie in der Mensa der Universität inmitten einer Gruppe fremdländischer Studenten einen jungen Mann erblickt hatte, dessen Ähnlichkeit mit Pierre so groß war, dass sie im ersten Augenblick hätte schwören können, er sei es selbst. Und der, wie sich dann herausstellte, sein Bruder war.
Niemals hatte Pierre ihr gegenüber erwähnt, dass einer seiner Brüder ebenfalls in Europa studierte. Geschweige denn im Burgund. Ausgerechnet in dieser Stadt, die sie sich aus mindestens zehn anderen aus ganz Frankreich für ihr Auslandssemester ausgesucht hatte.

Natürlich hatten sie über Pierre gesprochen. Natürlich hatte sie wissen wollen, wohin er gegangen war, nachdem er sie fluchtartig verlassen hatte. Und natürlich wusste der Bruder alles. Über sie. Über ihn. Über ihre Beziehung zueinander. Und auch noch einiges mehr, bei dem sich ihr Herz verkrampfte, selbst wenn sie es nüchtern und logisch betrachtete: er hatte eine neue Liebe gefunden, hier im Burgund.
Und als der Bruder nach einem langen Abend ihre Studentenbude verlassen hatte, lag ein Zettel mit Pierres Telefonnummer auf ihrem Tisch.

Nein, es gibt keine Zufälle, dachte sie jetzt wieder, während sich ihr Blick im Wein verlor.
Sie hatte ihn nicht angerufen. Sie wusste, dass er kommen würde. Sie wusste nur nicht, wann.

„Gibt es für mich auch einen Schluck?“
Im T-Shirt, darüber lässig ihren Bademantel gewickelt, stand er vor ihr.

Seit wann trinkst du Wein, wollte sie fragen. Reichte ihm stattdessen das Glas, ich habe kein zweites, sagte sie beinah entschuldigend. Er prostete ihr zu. Machte es sich danach neben ihr bequem. Rubinrot senkte sich die Stille zwischen ihre Hände.

Jetzt sitzen wir da, dachte sie, nach zwei Jahren sitzen wir einfach da, auf dem Bett in einem französischen Studentenheim, den Rücken zur Wand und trinken Wein.
Und die Worte lauern.

„Die Wahrheit liegt dahinter“, sagte er unvermittelt, so als habe er ihre Gedanken hören können. „Ach ja“, fragte sie, „und wo wäre das dann?“
„Hinter den Bergen. Den Meeren. Den Wüsten. Tausende von Kilometern weit weg“, antwortete er mit leiser, stockender Stimme.

„Und zwei Häuser von hier“, platzte es aus ihr heraus. Verdammt, dachte sie und kaute auf ihrer Unterlippe. Er lächelte und legte seinen Arm um sie. „Komm her und red keinen Unsinn“, sagte er, „ich meine etwas ganz anderes“.

Aber das hörte sie schon nicht mehr. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, ruhte endlich aus nach zwei Jahren sinnlosem sich Fragens. Und während Pierre langsam über ihr Haar strich, immer und immer wieder, so als ob er sie endgültig vertreiben wollte, die Fragen, gab sich ihr Ohr dem gleichmäßigen Rhythmus seines Herzens hin. Sie atmete seine Haut durch das dünne Shirt, Vanille, ja, immer noch Vanille, dachte sie, hatte ich das wirklich vergessen?

Dann folgte sie doch wieder seinen Worten, ließ sich mitnehmen auf eine Reise quer durch Europa.

„Ich konnte nirgendwo bleiben, verstehst du. Mein Studium war abgeschlossen, Aufbaukurse irgendwann auch längst uninteressant, ich fand keine Arbeit. Mehr und mehr fühlte ich mich fremd, bei dir in Deutschland genauso wie in Italien und jetzt hier in Frankreich. Überall spüre ich diesen zweifelhaften Wind, der zwar in seinem Innersten Freundlichkeit verspricht und mir letztendlich doch nur eisig entgegen schlägt. Und dann besinnt man sich, weißt du. Man hinterfragt. Wo komm ich her? Was sind meine Werte, für die ich einzustehen bereit bin. Wo will ich hin? Zu welchen Kompromissen bin ich bereit? Und ich habe mich entschieden“.

Ihr Herz stolperte. Was hatte er da gerade gesagt? Entschieden? Er hat sich entschieden? Und er ist bei mir. Sie wagte kaum zu atmen, derweil Pierre fortfuhr:

„Ich habe in mich gehört und da gab es stets nur eine Stimme, in all dem Lauten, Unwegsamen meines Lebens: die Stimme, die mich nach Hause ruft. Ich werde Europa verlassen, verstehst du, für immer“.

Ja, dachte sie. Und weiter, weiter. So sprich doch endlich. Sie zitterte, und ihre Finger verkrampften sich in fiebriger Erwartung.

„Ich werde in mein Land gehen und versuchen, das im Westen erworbene Wissen für diejenigen einzusetzen, die jenseits von Recht und Gerechtigkeit leben. Als Anwalt hab ich dabei gute Chancen. Dieses Land, eines der ärmsten der Welt, wollte und will ich dir nicht zumuten. Du könntest dort nicht leben. Es ist nicht deine Welt, und ich wäre dort wohl auch ein anderer als hier. Das allein war der Grund, dich zu verlassen.“

Der Regen hatte aufgehört. Seit wann wohl, fragte sie sich, nachdem Pierre seinen Bericht beendet hatte.

Ich sollte das Fenster schließen, sagte sie sich, es ist kalt geworden. Und widersprechen sollte ich ihm. Erklären, dass mich nichts halten würde, mit ihm zu gehen. Würde ich das wirklich wollen? Den Nachsatz konnte sie nicht ignorieren, aber da sie keine Antwort wusste, schwieg sie.

Und dann berührte sie ihn. Berührte ihn so, wie er es sie gelehrt hatte. Ihre Hände trugen noch das Muster seiner Haut, erinnerten sich und fanden die vertrauten Wege wieder.

Als sie am nächsten Morgen erwachte und ihren Arm suchend nach Pierre ausstreckte, griff sie ins Leere. Sie fuhr hoch, der Platz neben ihr war leer. Ihr Blick durchflog das Zimmer. Die Weinflasche stand noch auf dem Tisch, daneben das Glas, ihr Bademantel lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Stuhl, der Seesack war verschwunden. Sie rieb sich die Augen, hab ich geträumt, fragte sie sich, und stand auf. Ging langsam Richtung Bad. Rief seinen Namen. Öffnete die Tür. Der Raum war kalt und leer. Sie stellte sich unter die Dusche und unter dem warmen Strahl trat ihr der Schmerz durch die Augen. Vermischte sich mit dem Wasser, das an ihr herabfloss, und versickerte lautlos.

Als sie später zur Universität ging, schwenkte ihr Blick für einen Moment hinauf zum Fenster ihres Zimmers. Auf dem Sims sonnte sich ein Paar Espadrilles unterm blauen Julihimmel.



/c/ monika kafka, 2012

Sonntag, 22. Januar 2012

federträume


/c/ dieter vandory, nur einen moment, 2012




dein nachtauge, schmal
umrandet von gefiederten

träumen, entlang der lidfalte
will ich wachen und

im graulicht des morgens dir
erzählen, was du nicht mehr weißt




/c/ monika kafka, 01/12

Sonntag, 15. Januar 2012

vanitas

Als ersten Gast im Neuen Jahr begrüße ich auf meinem Blog die Autorin, Fotografin und Malerin
Isabella Kramer http://veredita.blogspot.com/


1957 in der Lüneburger Heide geboren, lebt sie heute in Celle / Niedersachsen.


Von frühester Jugend an dem Wort und den Farben eng verbunden, schreibt sie Lyrik und Kurzprosa, die sie oft mit eigenen Aquarellen oder Fotografien illustriert.


Es ist der Blick auf das Kleine, Unscheinbare, den sie festzuhalten sucht.
"Der Blick, abseits des Weges, die Sicht auf die Kleinigkeit, auf das Detail", ist eines ihrer Anliegen, "weil gerade das, was unbedeutend erscheint oft mit Hoffnung und Wandlung verbunden und damit von großem Wert ist".


Isabella Kramer hat in mehreren Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht und arbeitet derzeit an ihrer ersten eigenen Publikation.





/c/ Isabella Kramer, 2012





am ende deckt das meer
mit weichen tüchern
die letzten reste lebens
tröstend zu


schließt so den kreis
und öffnet ihn ins morgen
fragt nicht nach sinn
sagt einfach nur: es sei





/c/ Isabella Kramer, 2012
  

Freitag, 6. Januar 2012

Traum_Wanderung


/c/ Dieter Vandory, Verschlungene Wege, 2012









Nachts mache ich mich manchmal auf den Weg.
Im Schutz der Dunkelheit suche ich nach etwas, was es nicht mehr gibt.
Ich werde also niemals ankommen, aber das ist ganz gut so.
Ich kann niemals enttäuscht werden. Laufe keine Gefahr, als Fremde vor einem fremd gewordenen Ort zu stehen. Als eine, die aus der Zeit und der Szene gefallen ist.

Ich gehe langsam. Lausche, rieche, schmecke.

Im Winter den brandigen Geruch von Holzfeuer über schneebedeckten Tannen. Das tiefe Stöhnen des Waldes. Den verirrten Flügelschlag eines Vogels. Und ich sehe einen Himmel, der es aufgegeben hat, seine Sterne zu zählen. Ich verliere mich regelmäßig darin.
Meine Beine werden seltsam schwer und ich versinke, bevor ich das Dorf erreichen kann.

Im Sommer aber, wenn der Wald die warmen Tage ausatmet und der Boden den Schritt federt, kann es gelingen. Dann sehe ich das Kind auf dem altmodischen ausgeklappten Sessel wieder. Durchs geöffnete Fenster rauscht der Maulbeerbaum den Sonnentag in die kleine Stube. Greift mit seinen Armen nach dem krank daliegenden, als wolle er es hinaus ziehen. Zu den gackernden Hühnern und schnatternden Enten. Zu den Blumen und dem frechen Jakob, den Großmutter durch den Winter gebracht hatte. Sein Flügel war verheilt und bald würde er wieder zu den anderen Raben zurückkehren. Solang Großmutter noch mit ihm schimpft und danach unbekümmert ihre Lieder in der Küche singt, weiß das Kind, dass die Welt in Ordnung ist. Trotz Ziegenpeter und Kamillentee.
Ihre Stimme legt sich samtig um den schmerzenden Hals, glättet die rissigen Wunden, und aus dem Märchenbuch steigen später die Feen und Zwerge herauf und nehmen das Kind mit in ihr Reich.

Und dann kommt Mutter. Mit ihren Gesundmachhänden, die sie unter der Woche anderen Kranken leiht, schiebt sie die Fieberträume wie einen Vorhang zur Seite. Sie perlen von der heißen Stirn und der kühlende Atem vertreibt jeden Schmerz.

Nachts mache ich mich manchmal auf den Weg.
Heut ist es wieder soweit.
Ob Mutters Hände mich ein Mal mehr heilen können?



/c/ Monika Kafka, 01/12


Sonntag, 1. Januar 2012

verstummen

/c/ dieter vandory, und unten bleibt die stille, 2012








irgendwann wurden ihre worte immer kleiner.
und kleiner. und kleiner.


dann würgte sie silben.
schließlich erbrach sie buchstaben.


am schlimmsten aber waren die zeichen.

die widerhakenden frage ~  ritzten ihre kehle.
die ausrufe zerschnitten ihre stimme.


am ende erstickte sie beinahe.
an einem punkt.

es heißt, sie lebe heute in einem haus aus papier.
die wände seien durchsichtig.
und es fiele schnee.



/c/ monika kafka, 01/2012


Mittwoch, 28. Dezember 2011

Unverhofft


/c/ Dieter Vandory, zwei, 2011




„Darf ich noch reinkommen?“
Ihr schwarz umrandeter Blick stolperte den Worten hinterher. Fiel durch den Türspalt auf meine Schuhe. Hangelte sich langsam hoch, bis er meinen fand. Und setzte sich darin fest.
Ich öffnete die Tür. Müde löste sich ihr schmaler Rücken vom Rahmen. Ich trat ein paar Schritte zur Seite und ließ sie ein. Treten in mein für ein paar Tage geborgtes Domizil. Sie bewegte sich nervös, fast ungelenk. Der Mantel sprang auf und ich sah, dass sie darunter noch das kleine Schwarze trug. Sie hatte sich also nicht umgezogen nach ihrem Auftritt.
Ich schloss die Tür. Ging zur Bar und goss mir langsam einen Whiskey ein.
„Willst du auch einen?“, fragte ich mit belegter Stimme.
Sie nickte nur, während sie Mantel und Handtasche aufs Sofa gleiten ließ. Ging aufs Fenster zu.
„Schöne Aussicht von hier oben“, sagte sie und lächelte, „wäre es nicht schon dunkel.“
„Ja, und jetzt ist sie wenigstens nicht mehr laut.“ Ich lachte heiser. Räusperte mich.
„Hier, dein Whiskey.“
Wir prosteten uns zu.
Ihre Finger, diese feingliedrigen samtumhüllten Kunstwerke. Sie hatten Spuren auf meiner Haut hinterlassen. Niemals zu Ende gegangene Wege. Wege durch Gletschereis und Wüstensand. Immer schön abwechselnd, dachte ich bitter. Schluckte tief und trocken. Brannte das Getränk meine Kehle hinunter. Und die Frage, was will sie? 
Als ihre Lippen das Glas berührten, färbte sich die Stille rot. Und ihre Augen lagen darin wie glimmende Kohle. „Das ist gut“.
Sie nickte anerkennend der goldgelben Flüssigkeit zu.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte sie unvermittelt. Drehte sich kurz weg, um das Glas auf dem Schreibtisch abzustellen. Als sie danach meinen verständnislosen Blick auffing, fügte sie hinzu: „Zum Konzert, meine ich.“
„Du warst phantastisch“, entgegnete ich. „Unglaublich, wie deine Stimme gereift ist. Die tiefen Töne vibrieren förmlich. Sie sind rund und doch rau, man kann Abgründe dahinter erahnen.“
Sie winkte ab. „Ach was, in Wahrheit bin ich einfach nur alt geworden und muss mein Repertoire danach ausrichten. Aber es freut mich dennoch, dass es dir gefallen hat. Und woran arbeitest du gerade?“, fragte sie und deutete auf meinen Laptop. „Ich habe dich doch hoffentlich nicht gerade dabei gestört, deinen Protagonisten ins Jenseits zu befördern?“
 Der leise Spott in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Ich habe einen neuen Gedichtband publiziert, deshalb bin ich auch in dieser Stadt. Der Verlag ist der Ansicht, dass Signierstunden dem Verkauf förderlich seien … Na ja, davor lese ich natürlich auch. Du siehst“, sagte ich, „der Zufall hat uns zusammengeführt nach so langer Zeit. Der Zufall und die Kunst.“
„Ist das nun gut oder schlecht? Ich meine, glaubst du an die Strategie des Verlags?“
Sie blickte mich lauernd an. Ich war überzeugt, sie hatte längst bemerkt, dass meine Selbstsicherheit nur eine gespielte war. Dass meinen Lippen Worte entkamen, die nicht mit meinen tatsächlichen Gedanken überein stimmten. Bevor ich antwortete, nahm ich einen tiefen Schluck von meinem Whiskey. Er war in meiner Hand bereits warm geworden.
„Ja, warum auch nicht?“, flüsterte ich und sah sie unverwandt an.
„Ich müsste mal … dringend“, sagte sie und blickte sich fragend um.
„Geradeaus und dann links“, antwortete ich und ließ mich auf die Couch fallen. Hoffte, die kurze Zeitspanne, in der sie nicht anwesend war, nutzen zu können. Meine Gedanken zu sortieren, die längst nicht mehr um die Frage kreisten, was sie denn eigentlich wollte. Sondern darum, wo ich in dieser Situation stand. Und meine Pappmacheebeine zu entlasten. Das war doch nicht möglich, dachte ich immer und immer wieder.
Wie zerbrechlich sie doch wirkte. Und abgespannt. Wie nach einem langen beschwerlichen Weg, der nichts mit dem heutigen Auftritt zu tun hatte. Ich wusste um ihre Schatten. Um ihr Straucheln. Ihre Verzweiflung. Wir waren einander nah geblieben. Im Wort. Und den Rest erfuhr ich aus der Presse. Die war ja schon immer gnadenlos. Das wusste ich mittlerweile selbst zur Genüge.
Ich stand auf, schenkte mir nach. Wunderte mich. Sie blieb schon zu lange weg. Die Tür zum Bad war nicht ganz geschlossen. Alles in Ordnung, fragte ich und spähte hinein. Sie stand aufgestützt am Waschbeckenrand, den Blick im Spiegel verloren. „Endlich“, sagte sie und drehte sich langsam um.
Ihre Lippen schmeckten nach Walderdbeeren und bitterem Verzicht. Meine Hände legten die Röte frei. Blattunter nistete die Wärme des Wüstensandes. Ließ Gletscher schmelzen. Ihre Brüste wölbten sich mir entgegen. Und in unseren Atem mischte sich die Melodie des ewigen Windes, der Glimmendes entfacht zum zügellosen ...
Es klopfte.
„Ihr Taxi, Madame, es wartet.“
Amy Sörensen klappte das Buch zu, ergriff ihren Koffer und verließ das Hotelzimmer.



/c/ Monika Kafka, 12/2011

Freitag, 23. Dezember 2011

Ich wünsche ...

/c/ Monika Kafka, 2011




... allen meinen LeserInnen
Frohe Weihnachten und
ein gesundes Neues Jahr 2012!

Eure MOnika

Mittwoch, 21. Dezember 2011

klage

/c/ dieter vandory, verneigung vor dem licht, 2011





Mutter, es heißt
bald sei wieder weihnacht
und aufgerüstet wird zum fest


die warnungen vor terror werden
dichter_verleumdung sprießt
und unverhohlen hass


vereist sind mir die wege und bunt
nur wünsche in den bäumen
im kranz erstarrt

die eingeflochtnen worte
der engel friert auf deinem grab


ein jämmerlicher wind
geht durch die herzen löscht
eins ums andere der lichter aus


Mutter,
bald ist wieder weihnacht und ich
kann nimmermehr nach haus





/c/ monika kafka, 2011

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Cheb - Eger, 1994 - Claus Stephani

Gast auf meinem Blog ist im Dezember der Ethnologe, Schriftsteller, Kunsthistoriker und Journalist Dr. Claus Stephani.
Im siebenbürgischen Kronstadt geboren, verließ er 1990 seine Heimat und lebt seither bei München.
Seine zahlreichen Publikationen - ob Lyrik, Prosa, Oral History, Märchen, Sagen - beweisen jedoch, dass er wie kein Zweiter eigentlich beheimatet ist im Wort.
Ihm hinterher zu lauschen, es abzuklopfen, stets zu hinterfragen ist seine Lebensaufgabe. Und es sind meist die leisen Töne, die Zwischenklänge, die in den Texten von Claus Stephani einen Zauber entfalten, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Sein letzter Roman, Blumenkind, ist im SchirmerGraf Verlag, 2009 erschienen.





/c/ Dieter Vandory, verbunden mit dem eigenen Schatten, 2011




  

    

Cheb – Eger, 1994

oder Meth und Emeth


Von Claus Stephani



     Aus der Stadt führt eine Straße den Berg hinauf. Sie windet sich vorbei an Häusern, die immer noch dastehen, als wären sie Bettler. Es ist eine Straße, auf der viele Autos fahren, auch solche mit fremden Kennzeichen, und irgendwann führt diese Straße an einem Friedhof vorbei.
     Wer es eilig hat, sieht links hinter verfallenem Gemäuer hohe dunkle Bäume, und dazwischen im wuchernden Gesträuch Grabsteine, vereinzelte graue Steine wie Schatten.
     Wer es nicht eilig hat, kann jetzt kurz abbiegen und bis zu einem Tor fahren, das meist offen steht und auf Menschen wartet – solche, die kommen und gehen, und solche, die bleiben.
     Dahinter liegt nämlich ein Ort der Ruhe, wie es früher im Osten hieß, ein Ort, wo jene ruhen sollten, die diese Welt verlassen mussten, unfreiwillig oder freiwillig, um hinüber zu gehen, hinüber – das ist die andere Welt, die man nicht kennt, wo man aber, heißt es, bis zum Jüngsten Tag in Frieden ruhen kann.
     Wer es also nicht eilig hat, der sollte hier anhalten, es gibt genügend Parkplätze, und er kann dann auch auf den Friedhof gehen, dem Ort des Friedens, wo die Tschechen ruhen – Tschechen mit tschechischen Namen, Tschechen mit deutschen Namen, mit tschechischen Vornamen und deutschen Nachnamen, und auch umgekehrt, in vielfältiger Schreibweise. Alle liegen sie da, nebeneinander und einträchtig.
     Was sollten sie auch anderes tun? Das, was sie einst zu Lebzeiten getan haben – wer kann darüber noch etwas sagen? Hoffnungen, Ängste, Freude und Liebeskummer, alle diese wichtigen Dinge haben sie mitgenommen, und zurückgeblieben ist eine Inschrift, zwei Worte, die man jenen mitgibt, die mit leeren Händen diese Welt verlassen, so, wie sie einst ihr Licht erblickt hatten, nackt und hilflos – zwei Worte, ein Wunsch, ein Versprechen: Ruhe sanft!
     Wer es aber immer noch nicht eilig hat, kann hier über dieses und jenes nachdenken – beispielsweise darüber, dass die meisten gepflegten Gräber erst in den letzten fünfzig Jahren angelegt wurden. Und er kann dabei zwischen Blumen und Gräberreihen auf breitem Kiesweg weitergehen bis zu den dunklen Bäumen – ich sah sie zuvor, als ich wie beiläufig aus dem fahrenden Auto blickte. Und dort, man kann es kaum erkennen, war bis vor nicht allzu langer Zeit auch ein Ort des Friedens und der Ruhe: ein deutscher Friedhof.
     Zuerst kommt man an einigen mächtigen Grüften und Grabmalen vorbei, und da gibt es noch Bruchstücke von deutschen Namen, Teile von Inschriften, einzelne Worte. Sie stehen da wie offene Hände, die niemand mehr anfassen will und die sich nicht mehr schließen können, weil sie niemandem mehr gehören.                                                            
     Wer dann noch einige Schritte weitergeht, betritt ein kahles Feld, wo kein Gras wächst, weil die Erde erst vor kurzem aufgeschürft wurde. Und plötzlich wird eines deutlich: Es sind Gräber, über die man geht, Gräber, Gräber, Hunderte von Gräbern, dazwischen Teile und Teilchen von Grabsteinen, Holzstücke, Teile von Särgen, Knochen, Teile von Menschen – Menschen, die einst hier mit dem Spruch „Ruhe in Frieden“ verabschiedet worden sind.
     Wo aber ruhen nun jene viele sanften Toten, deren Gräber ein Bagger eingeebnet hat? Ein Bagger, der im Schatten der Bäume verschnauft und erschöpft vor sich hin rostet. Und gleich daneben ein Haufen von Bruchstücken, die einst Grabsteine waren, ein Haufen zerbrochener deutscher Namen, die hier warten, um als Schutt oder Sondermüll weggeschafft zu werden.
     Meth und Emeth heißt es auf Hebräisch, zwei Worte, die sich durch einen einzigen Buchstaben unterscheiden, weil zwischen Tod und Wahrheit ein schmaler Graben verläuft, keine Grenze, denn Grenzen werden von Menschen errichtet, nur ein schmaler Graben, manchmal kaum sichtbar, der trennt, aber auch verbindet.                                                           
     Wo der Tod ist, das wissen wir: Er ist überall dort, wo auch Menschen sind. Wo aber ist die Wahrheit, die hier von einem Bagger beiseite geschoben wurde? Oder sollte Meth, der Tod, selbst ausgelöscht werden, wo doch nur er allein alles, auch das Gedächtnis, die Erinnerung auszulöschen vermag? Eine Tat, die den Tod ungeschehen machen möchte, indem sie ihn aus dem Zeitgeschehen hinausbaggert? Und wenn es hier keinen Tod gegeben hat, dann war ja hier auch kein Leben.
     Wer es bisher nicht eilig hatte, sollte nun nicht einfach umkehren, denn er kann hier, auf eingeebneten Gräbern stehend, still verweilen. Er kann dabei auch eine Zigarette rauchen, wie es gerade der Friedhofsgärtner tut. Er kann dastehen oder herumgehen, so lange es seine Zeit erlaubt. Er könnte aber auch einmal versuchen, ein wenig nachzudenken über Meth und Emeth, hier am Ort der Ruhe, der Wahrheit, des Friedens.
     Von der nahen Straße hört man laute Autos, die den Berg hinunter rasen und einander an Arroganz überbieten. Aus den Bäumen fällt unentwegt Vogelgezwitscher. Ein sanfter Sommer ist ins böhmische Land gegangen. Der Friedhofsgärtner ruft etwas in die Richtung der gepflegten Gräber, wo ein Mann mit einem Rechen hantiert. Und nur aus der verwundeten Erde unter unseren staubigen Schuhen kommt, man kann es fühlen, das endlose, schmerzliche Schweigen.


(Aus dem Tagebuch Böhmische Marginalien, 1993-1995.)