Der Beamte nickte uns freundlich
herein.
An diese Freundlichkeit hatte ich
mich immer noch nicht gewöhnt, obwohl ich schon durch einige Amtszimmer
gegangen war. Dieses sollte nun das letzte sein, wie ich dem Laufzettel
entnehmen konnte, den man mir frühmorgens bei der Anmeldung im Durchgangslager ausgehändigt
hatte.
Die Außenseite der weißen
Resopaltür zierte ein Schild, darauf stand „Deutschtest“, an der Innenseite hing
ein ABC-Poster. Es gab ein paar Regale voller Aktenordner, einige Bücher,
darunter ein paar Bände aus der Dudenreihe sowie fremdsprachige Wörterbücher. Ferner
einen kleinen Schreibtisch, hinter dem der Beamte wieder Platz nahm, nachdem er
meine Familie und mich lächelnd begrüßt hatte, ein paar Stühle, die offenbar
für uns bereit standen. Wir setzten uns.
Eine gestäbte Sonne mühte sich, den
Raum im Untergeschoss aufzuhellen an diesem späten Januartag, was ihr nur mäßig
gelang.
Mein Blick blieb am
Rechtschreibduden hängen, der sich in Format und Farbe von meinem eigenen Exemplar
unterschied. Bevor ich mich jedoch in Gedanken darüber verlieren konnte, inwiefern
ein geteiltes Land auch eine geteilte Sprache habe, sodass ein Ost- bzw.
Westduden gerechtfertigt sei, fragte der Beamte: „Verstehen und sprechen Sie deutsch?“,
und traf damit mitten in meine Überlegungen.
„Kommt darauf an, welches Deutsch
Sie meinen“, platzte es aus mir heraus, „Ost- oder Westdeutsch“.
„Marlene“, zischte Mutter und sah
sich hilfesuchend nach Vater um, der schon wieder diesen verlegenen, etwas zu
unterwürfigen Blick aufgesetzt hatte, den ich so gar nicht mochte an ihm, auch
wenn ich wusste, wie er im Laufe von vielen Jahren in einem totalitären Regime
entstanden war. Ich wollte ihn stark und selbstbewusst sehen, verdrehte die
Augen und schwieg.
„Selbstverständlich verstehen und
sprechen wir deutsch“, hörte ich ihn leise sagen.
„Wissen Sie“, antwortete der
freundliche Beamte, „selbstverständlich ist das nicht. Ich habe hier täglich
mit Menschen zu tun, mit Volksdeutschen aus Russland etwa oder aus Polen, die
ihr Deutsch nicht pflegen durften, verstehen Sie?“
„Aber wir kommen aus Siebenbürgen,
da beherrschen alle die deutsche Sprache, und zwar in Wort und Schrift.
Schließlich hatten wir dort deutsche Kindergärten und Schulen“.
Ich konnte einfach nicht den Mund
halten, auch wenn mich dafür wieder ein böser Blick von Mutter traf.
Der Beamte hingegen ignorierte
meinen Einwand, blieb weiterhin freundlich, lehnte sich zurück und nahm sich
eines der bereit liegenden Formulare vor. Zeile für Zeile ging er es mit uns durch,
füllte Namen und Geburtsdaten aus, notierte, was wir ihm über Schulbildung und
Studium sagten, über Leben und Arbeiten in jenem für ihn so fernen Land hinter
den Wäldern. Er war interessiert und begierig, viel zu erfahren, ich entspannte
mich und merkte erst allmählich, dass wir mitten in einem angeregten Gespräch
steckten, als mir plötzlich wieder das Schild an der Tür einfiel.
„Und was müssen Sie jetzt testen?
Haben Sie Arbeitsblätter zu Grammatik und Wortschatz?“ Sein Lachen war so
herzlich, dass es ansteckend wirkte. Und befreiend.
„Wir haben also bestanden?“, fragte
ich, jetzt doch ein wenig kleinlaut.
„Wissen Sie eigentlich, was es für
ein Glück bedeutet“, sagte er abschließend, „dass Sie in einem Land gelebt
haben, in dem es Ihnen immerhin gestattet war, Ihre jahrhundertalte Tradition zu
bewahren und zu leben, wenn auch nicht immer offen. Und dass Sie das Privileg
hatten, über die Sprache stets verbunden zu bleiben mit dem deutschen
Kulturraum. Sie werden Ihren Weg hier finden und gehen- da bin ich mir sicher“.
Mein Weg führte mich zunächst
einmal zurück nach München und fünf Monate später an die Universität. Ich nahm
mein in Siebenbürgen begonnenes Studium wieder auf, doch sollte es eine ganze
Weile dauern, bis ich mich im Dschungel einer Großuniversität zurechtgefunden
hatte. Und abgefunden mit so manchem Vorurteil, das der Unwissenheit entsprang,
selbst unter gebildeten Menschen.
Eines Tages stand ich wie so
mancher Studienanfänger vor dem Schwarzen Brett des Romanistikinstituts und versuchte
verzweifelt, herauszufinden, in welches Seminar ich zu gehen hatte und wo in
diesem Labyrinth aus Gängen und Hörsälen sich nun der Raum befand, in dem die
Lehrveranstaltung stattfinden sollte. Die junge Frau neben mir nahm ich erst
wahr, als sie mich ansprach. Wir stellten fest, dass wir in den gleichen
Grammatikkurs wollten und dass noch genügend Zeit für einen Cafeteriabesuch
war. Wir plauderten über dies und jenes und es dauerte nicht lang, bis sie mich
fragte, woher ich denn käme. Ich hätte so einen eigenartigen Akzent, den sie
aber nicht zuordnen könne. Und ich erzählte. Bereitwillig und ausführlich. Auch
sie hörte interessiert und begierig zu, zumindest meinte ich das, nur um dann
am Ende erstaunt zu fragen: „Und wie lang, sagst du, bist du nun in
Deutschland? Fünf Monate? Unglaublich, dass du in so kurzer Zeit dermaßen gut
Deutsch gelernt hast“.
Wir wurden trotzdem Freundinnen,
auch wenn ich nach zehn Semestern gemeinsamen Studierens immer noch die Rumänin
für sie war. Ich hatte es irgendwann einfach aufgegeben, zu erklären,
aufzuklären. Und das nicht nur bei ihr.
Ich kam abwechselnd aus allen
möglichen Gegenden Deutschlands, je nachdem wo mein Gegenüber meinen
angeblichen Dialekt ansiedelte und es machte mir immer seltener etwas aus. Ich
wunderte mich nur, still und heimlich, amüsierte mich gelegentlich und ließ es
gut sein.
Als mir jedoch ein Jahr nach meiner
Einreise in dieses Land in einer feierlichen Zeremonie die Einbürgerungsurkunde
im Rathaus überreicht wurde und ein wiederum sehr freundlicher Beamter am Ende in
breitem Bayrisch freudig anmerkte, wie gut ich doch Deutsch gelernt hätte in
dieser doch relativ kurzen Zeit, konnte ich mir nicht verkneifen ihm zu
antworten:
„Ja mei, is hoid ned a jeder a
Sprachgenie, gell?“
/c/ monika kafka, 11/13