/c/ Dieter Vandory, verbunden mit dem eigenen Schatten, 2011
Cheb – Eger, 1994
oder Meth und Emeth
Von Claus Stephani
Aus der Stadt führt eine Straße den Berg hinauf. Sie windet sich vorbei an Häusern, die immer noch dastehen, als wären sie Bettler. Es ist eine Straße, auf der viele Autos fahren, auch solche mit fremden Kennzeichen, und irgendwann führt diese Straße an einem Friedhof vorbei.
Wer es eilig hat, sieht links hinter verfallenem Gemäuer hohe dunkle Bäume, und dazwischen im wuchernden Gesträuch Grabsteine, vereinzelte graue Steine wie Schatten.
Wer es nicht eilig hat, kann jetzt kurz abbiegen und bis zu einem Tor fahren, das meist offen steht und auf Menschen wartet – solche, die kommen und gehen, und solche, die bleiben.
Dahinter liegt nämlich ein Ort der Ruhe, wie es früher im Osten hieß, ein Ort, wo jene ruhen sollten, die diese Welt verlassen mussten, unfreiwillig oder freiwillig, um hinüber zu gehen, hinüber – das ist die andere Welt, die man nicht kennt, wo man aber, heißt es, bis zum Jüngsten Tag in Frieden ruhen kann.
Wer es also nicht eilig hat, der sollte hier anhalten, es gibt genügend Parkplätze, und er kann dann auch auf den Friedhof gehen, dem Ort des Friedens, wo die Tschechen ruhen – Tschechen mit tschechischen Namen, Tschechen mit deutschen Namen, mit tschechischen Vornamen und deutschen Nachnamen, und auch umgekehrt, in vielfältiger Schreibweise. Alle liegen sie da, nebeneinander und einträchtig.
Was sollten sie auch anderes tun? Das, was sie einst zu Lebzeiten getan haben – wer kann darüber noch etwas sagen? Hoffnungen, Ängste, Freude und Liebeskummer, alle diese wichtigen Dinge haben sie mitgenommen, und zurückgeblieben ist eine Inschrift, zwei Worte, die man jenen mitgibt, die mit leeren Händen diese Welt verlassen, so, wie sie einst ihr Licht erblickt hatten, nackt und hilflos – zwei Worte, ein Wunsch, ein Versprechen: Ruhe sanft!
Wer es aber immer noch nicht eilig hat, kann hier über dieses und jenes nachdenken – beispielsweise darüber, dass die meisten gepflegten Gräber erst in den letzten fünfzig Jahren angelegt wurden. Und er kann dabei zwischen Blumen und Gräberreihen auf breitem Kiesweg weitergehen bis zu den dunklen Bäumen – ich sah sie zuvor, als ich wie beiläufig aus dem fahrenden Auto blickte. Und dort, man kann es kaum erkennen, war bis vor nicht allzu langer Zeit auch ein Ort des Friedens und der Ruhe: ein deutscher Friedhof.
Zuerst kommt man an einigen mächtigen Grüften und Grabmalen vorbei, und da gibt es noch Bruchstücke von deutschen Namen, Teile von Inschriften, einzelne Worte. Sie stehen da wie offene Hände, die niemand mehr anfassen will und die sich nicht mehr schließen können, weil sie niemandem mehr gehören.
Wer dann noch einige Schritte weitergeht, betritt ein kahles Feld, wo kein Gras wächst, weil die Erde erst vor kurzem aufgeschürft wurde. Und plötzlich wird eines deutlich: Es sind Gräber, über die man geht, Gräber, Gräber, Hunderte von Gräbern, dazwischen Teile und Teilchen von Grabsteinen, Holzstücke, Teile von Särgen, Knochen, Teile von Menschen – Menschen, die einst hier mit dem Spruch „Ruhe in Frieden“ verabschiedet worden sind.
Wo aber ruhen nun jene viele sanften Toten, deren Gräber ein Bagger eingeebnet hat? Ein Bagger, der im Schatten der Bäume verschnauft und erschöpft vor sich hin rostet. Und gleich daneben ein Haufen von Bruchstücken, die einst Grabsteine waren, ein Haufen zerbrochener deutscher Namen, die hier warten, um als Schutt oder Sondermüll weggeschafft zu werden.
Meth und Emeth heißt es auf Hebräisch, zwei Worte, die sich durch einen einzigen Buchstaben unterscheiden, weil zwischen Tod und Wahrheit ein schmaler Graben verläuft, keine Grenze, denn Grenzen werden von Menschen errichtet, nur ein schmaler Graben, manchmal kaum sichtbar, der trennt, aber auch verbindet.
Wo der Tod ist, das wissen wir: Er ist überall dort, wo auch Menschen sind. Wo aber ist die Wahrheit, die hier von einem Bagger beiseite geschoben wurde? Oder sollte Meth, der Tod, selbst ausgelöscht werden, wo doch nur er allein alles, auch das Gedächtnis, die Erinnerung auszulöschen vermag? Eine Tat, die den Tod ungeschehen machen möchte, indem sie ihn aus dem Zeitgeschehen hinausbaggert? Und wenn es hier keinen Tod gegeben hat, dann war ja hier auch kein Leben.
Wer es bisher nicht eilig hatte, sollte nun nicht einfach umkehren, denn er kann hier, auf eingeebneten Gräbern stehend, still verweilen. Er kann dabei auch eine Zigarette rauchen, wie es gerade der Friedhofsgärtner tut. Er kann dastehen oder herumgehen, so lange es seine Zeit erlaubt. Er könnte aber auch einmal versuchen, ein wenig nachzudenken über Meth und Emeth, hier am Ort der Ruhe, der Wahrheit, des Friedens.
Von der nahen Straße hört man laute Autos, die den Berg hinunter rasen und einander an Arroganz überbieten. Aus den Bäumen fällt unentwegt Vogelgezwitscher. Ein sanfter Sommer ist ins böhmische Land gegangen. Der Friedhofsgärtner ruft etwas in die Richtung der gepflegten Gräber, wo ein Mann mit einem Rechen hantiert. Und nur aus der verwundeten Erde unter unseren staubigen Schuhen kommt, man kann es fühlen, das endlose, schmerzliche Schweigen.
(Aus dem Tagebuch Böhmische Marginalien, 1993-1995.)
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