schluesselworte

schluesselworte
abgelegt und fortgegangen (c) Dieter Vandory

Samstag, 8. September 2012

Dortheim




Diese Geschichte beginnt in Süddeutschland. In einer Stadt, von der Marlene adoptiert wurde, nachdem sie hier eines Tages angekommen war mit zwei Koffern, vollgepackt mit den Resten ihres bisherigen Lebens.
Und sie wird auch hier enden, in dieser Stadt, in der sich Marlene mittlerweile daheim fühlt, auch wenn sie ihr selbst nach zwanzig Jahren hin und wieder noch so fremd erscheint wie am Tage ihrer Ankunft.
Dazwischen aber schiebt sich ein anderer Ort, eine andere Gegend. Und damit auch die erste Hälfte ihres bisherigen Lebens ...

Ein kühler Wind schlug Marlene entgegen, als sie aus der U-Bahn stieg und ins Freie trat. Etwas Modriges lag in der Luft, durchdrungen vom Duft nach frischem Brot, das aus einer nahegelegenen Backstube nach draußen drang.

Es schmeckt bereits nach Herbst, dachte sie, als sie den großen, fast menschenleeren Rathausplatz überquerte. Am Fischbrunnen schnäbelten aufgeregte Tauben. Ob sie wohl über ihr buntes Spiegelbild erstaunt sind, fragte sich Marlene und musste unwillkürlich lächeln. Auf der Wasseroberfläche schwammen bereits die ersten rostroten Blätter.
Aus den Bäumen blitzte es golden auf, als die ersten Sonnenstrahlen über die Giebel der umliegenden Häuser lugten. Sie würden die Morgennebel vertreiben, der Stadt und ihren Menschen einen schönen Herbsttag schenken, dachte Marlene.
Einer plötzlichen Laune folgend bog sie in die Rosenthalstraße ein, die zum Viktualienmarkt führt.

Eilig wurden hier Laster entladen, die bunten Obst- und Gemüsekisten sorgfältig gestapelt, sortiert, verteilt.
Marlene schlenderte an den Ständen vorbei und genoss das sich ihr bietende Bild.
Geschäftige Marktfrauen standen vor bereits ausgelegter Ware, polierten noch schnell den einen oder anderen Apfel, legten Salatgurken in Reih und Glied und zupften das grüne Kleid des Blumenkohls zurecht. Gelb leuchteten die Birnen neben violetten Pflaumen, die ihr dunkel-süßes Geheimnis unter einer glatten Haut verbargen, und Quitten verströmten ihren herben Duft.      
Der erdige Geruch von Pilzen weckte die Erinnerung an ferne Wälder, reife Trauben ließen sie an üppige Weinberge denken, aus denen ein warmer, schwerer Spätsommerduft stieg. Damals ...

Nur dass damals die Stände der Markfrauen eher ärmlich aussahen und das Angebot recht übersichtlich war, dachte sie bitter. Weder wurde die Ware poliert noch auf besonders ansprechende Weise präsentiert, man war schon zufrieden, wenn es sie überhaupt gab.

Eine Kinderschar wirbelte über den Markt und riss Marlene aus ihren Gedanken. Schulausflug, tippte sie. Die bunten Rucksäcke wippten auf den schmalen Rücken, als ob sie mitlachten. Marlene sah den Kindern eine Weile nach.
Während sie sich unter eine alte Kastanie auf die Bierbänke setzten und ihre Milchschnitten auspackten, kaufte sie sich kurzerhand eine Traube, zwinkerte dem skeptisch dreinblickenden, bronzenen Valentin über dem Brunnen zu und ging Richtung Isar.

Während sie eine Beere nach der anderen pflückte, das saftige, volle Aroma schmeckte, lösten sich in den Auen die letzten Nebelschwaden auf. Und in der milden Sonne hatte Marlene plötzlich das Gefühl, als ginge sie nicht mehr an der Isar entlang, sondern an dem aus Kindertagen vertrauten Weißbach. Die Stadtsilhouette verschwand allmählich und an ihre Stelle trat wieder das kleine Straßendorf, mit seinen geduckten, farbenfrohen Häusern, an denen sich Weinreben und Rosen rankten.
Sie sah die Wehrkirche neben dem eingezäunten Schulhof, in dessen Mitte eine üppige Kastanie angenehme Kühle bot.
Die Turmuhr schlug acht Mal – und wie an jedem Tag zu Schuljahresbeginn setzte sich eine Kinderkarawane in Bewegung, zog hinaus Richtung Weinberge, die am Ende des Dorfes auf die kleinen Helfer warteten.

„Hast du auch Brot mit Speck dabei?“, fragte Marlene ihre Freundin.
„Ja, natürlich, was denn sonst?“, antwortete Brunhilde. „Obwohl, heute“, sie lächelte voller Stolz, „heute habe ich sogar ein kleines Stück Schweinewurst mitbekommen, die lässt sich gut über dem Feuer braten“. Ihre Augen glänzten.
„Ich brate heute nur Speck“, sagte Marlene. Wenn mir die Buben nur auch einen Weidenspieß schnitzen würden, ich kann das nämlich nicht“, seufzte sie, „außerdem darf ich kein Taschenmesser mitnehmen, das haben die Eltern verboten.“
„Ach, denk dir nichts, die machen das schon. Für uns alle“, entgegnete Bruni. „Man muss sie nur bitten, dann fühlen sie sich wichtig.
Aber ohne Messer kannst du doch gar nicht arbeiten“, fuhr die Freundin fort, „die Trauben lassen sich nicht so einfach abreißen“.
„Dafür habe ich ja auch eine kleine Schere mitgenommen, du, das ist nicht so gefährlich“, sagte Marlene.

Nach gut einer Stunde hatten die Kinder die staatlichen Weinberge erreicht. Dort wartete bereits ein Traktor mit Anhänger auf sie, der sie das letzte Stück hinauf fahren sollte. Ein Riesenspaß war das jedes Mal. Die Sonne hatte sich mittlerweile durch den Morgennebel gekämpft. In der dunstigen, noch kühlen Luft war der süße Duft der Trauben zum Greifen nah. In der Ferne schlängelte sich das Silberband des Baches durchs Tal, Maisfelder leuchteten durchs rostige Laub und vereinzelt durchdrang der Ruf eines Kuckucks die Stille, die mit der Ankunft der Kinder jäh beendet wurde.


Ausgerüstet mit Weidenkörben übernahmen immer je zwei Kinder eine Reihe der Rebstöcke. Marlene arbeitete stets mit ihrer Freundin zusammen.

Wer würde heute die schönste, die größte Traube finden? Wer als erster seine Reihe abgeerntet haben? Flink griffen die kleinen Finger ins morgenfeuchte Weinlaub, legten zwischen den herzförmigen Blättern nicht selten ein glitzerndes Spinnennetz frei, Traube um Traube füllte die Körbe und ... die Mägen der Kinder, die essen durften, so viel sie wollten und konnten.
Bald schon kündigten Rauchschwaden die Mittagspause an.
Flink hatten die Jungen Spieße geschnitzt und schon scharten sich alle ums Feuer.

Niemals wieder hatte Marlene eine köstlichere Brotzeit genossen als jene im sonnenwarmen Weinberg, die, war sie auch noch so bescheiden, so doch um alle Farben und Düfte des Herbstes bereichert wurde. 

Kinderarbeit, dachte Marlene, während sie die letzte Beere an der Isar genoss, Kinderarbeit, was denn sonst?

In gewissem Sinne war es das sicherlich auch, was in ihrem Dortheim vor langer Zeit stattgefunden hatte. Doch so empfunden hatten sie es damals nicht, die Kinder, vielmehr als eine Art verlängerter Ferien.

Wie lange schon sind diese Erinnerungen nicht mehr zurückgekehrt, wunderte sich Marlene. Was so eine Weintraube an einem Septembermorgen nicht alles vermag, lachte sie und schritt vergnügt über die Wittelsbacher Brücke zurück in den Tag. 



/c/ Monika Kafka, 2009


9 Kommentare:

  1. Liebe Mo,

    welch wunderbare Erinnerung, die du in so liebevollen Worten festgehalten hast.
    Ja. Hier kehrt so oft das Lächeln ein, und es verzaubert diese Erinnerung doppelt fein.

    Gern gelesen und sich dann auch erinnert, an die damaligen *Kartoffelferien* im Herbst, in denen ganze Schulklassen auf den Feldern zu finden waren. Und das war gar nicht so schlecht, wusste man doch dann, wenigestens so ungefähr, was allein das Ernten für Arbeit ist.

    Mo, eine feine Geschichte, eine, die ganz sicher in einem Büchlein von dir ihren Platz behaupten wird.

    herzlichst, Edith

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. liebe edith,

      wie schön, dass du da so mitgehen kannst.
      ich bin immer wieder erstaunt, dass mir auch so prosaisches aus der feder fließen kann - wenngleich es mir immer schwieriger vorkommt als gedichte zu schreiben ...

      hab dank für deine worte!

      alles liebe,
      mo

      Löschen
  2. schön! du weißt, ich liebe deine geschichten!
    und diese ist wirklich wieder ganz entzückend.
    auch bei uns war es natürlich so. auch hier wurden die kinder in den weiberg geschickt und zum maisernten! das war eine reine kinderdomäne.
    allerdings nicht in die staatlichen gründe ...

    aber ich führe ja gespräche für eine zeitzeugenchronik und da wird immer wieder davon erzählt :-)

    hezrlich
    deine lintschi

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. liebe lintschi,

      ja ich weiß, du bist eine große befürworterin meiner prosa und es freut mich jedes mal, dass du sie liest und kommentierst.

      ach ja, das maisernten - vielmehr bei uns das kukuruzernten - das war ja vielleicht eine arbeit, puhhh ... dann lieber die weinberge oder die obstgärten, selbst wenn sie staatlich waren und nur als solche hab ich sie als spätgeborene erlebt.

      ganz liebe grüße zu dir hin,
      deine mo

      Löschen
  3. Erzählen kannst du auch!
    Zum ersten Mal eine Geschichte von dir gelesen.
    Gefällt mir. Vor allem die bildhafte Sprache:

    ... zupften das grüne Kleid des Blumenkohls zurecht.

    In der Ferne schlängelte sich das Silberband des Baches durchs Tal ...

    Schön, Monika.


    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. danke jorge, danke vielmals.
      und ja, hin und wieder verirre ich mich auch in die prosa, der allerdings immer etwas lyrisches anhaftet.

      liebe grüße,
      monika

      Löschen
  4. liebe mo,

    sehr gerne mitgegangen und für kurze zeit in den eigenen erinnerungen innegehalten.

    wunderbar geschrieben!

    liebe grüße
    deine gabriele

    AntwortenLöschen
  5. ich danke dir, liebe gabriele.

    es scheint so, als hätten manche ähnliche erinnerungen an den herbst der kindheit ...

    lg
    deine mo

    AntwortenLöschen
  6. ,,In einer Stadt, von der Marlene adoptiert wurde...", oder ,,...mit zwei Koffern, vollgepackt mit den Resten ihres bisherigen Lebens."
    Liebe Monika, das Volumen dieser Aussagen könnte Seiten füllen. Das ist Spannung, eine Sprache in lebendigen Bildern. Es ist anders und eine andere Geschichte - aber Herta Müllers ,,Atemschaukel", die in zwei Büchern hätte geschrieben werden können (ohne dabei langweilig zu werden) fällt mir ein. ...und nebenbei - eigene Erinnerungen werden wach. Herrlich!!!
    Liebe Grüße,
    Michael Hermann


    AntwortenLöschen