Sie wurde vermutlich per Selbstauslöser gemacht und zeigt Vater und Mutter auf einer Bergkuppe vor einem bedrohlich wirkenden Wolkenhimmel. Das Stativ hatte Vater so tief gestellt, dass die Kamera etwas nach oben gerichtet war. Durch diese Schrägstellung ließe sich erklären, warum die beiden wie vor einer Kulisse erscheinen.
Im Vordergrund, der in etwa zwei Drittel des Bildes einnimmt, ist nichts weiter zu erkennen, als der sich wölbende Bergrücken. Es lässt sich weder mit Sicherheit sagen, ob die schwarzweiße Szenerie im frühen Frühjahr oder im späten Herbst, noch wo sie aufgenommen worden ist. Mutter und Vater tragen lange Mäntel, Trenchcoats, mutmaßte Marlene. Mutter hat ein Tuch auf, vielleicht war es windig und sie musste ihre zeitlebens empfindlichen Ohren schützen. In der rechten Hand hält sie einen kleinen Strauß Blumen.
Beide haben die Köpfe etwas zueinander geneigt und blicken geradeaus.
Marlene hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie den Betrachter der späteren Photographie direkt anschauen. Sie liebte dieses Bild ihrer Eltern, seit sie denken konnte. Und sie liebte die Vorstellung, dass sie Marlene bereits zu einem Zeitpunkt ansahen, als es sie noch gar nicht gab. Selbst als Erwachsene kramte Marlene, wenn sie die Eltern besuchte, oft nach dem alten Album, und verweilte wie früher, als Kind, lange bei diesem einen Bild.
Die starken Kontraste waren auch mit den Jahren nicht verblasst, die grobkörnige Oberfläche ließ das Dargestellte immer noch plastisch erscheinen.
Dieses Album ist, zusammen mit vielen anderen, mittlerweile in Marlenes Besitz übergegangen. Doch nie wieder hatte sie es sich seither angeschaut. Bis zu jenem Morgen, als sie mit der Erinnerung an einen Traum erwachte und mit dem Gefühl, dass damit etwas nicht stimmte.
Die Eltern standen darin genau wie auf dieser Photographie, die vor mehr als einem halben Jahrhundert gemacht worden war. Und sie sahen Marlene an. Wie immer.
Doch statt des sich wölbenden Bergrückens war jetzt im Vordergrund ein tiefer dunkler Graben.
/c/ monika kafka, 01/14
Marlene wird wohl eine Brücke bauen - und es wird ihr nicht schwer fallen.
AntwortenLöschenUnsere Wahrnehmungen verändern sich, liebe Monika.
Die Frage ist: - wie gehen wir damit um.?
Herzliche Grüße,
Michael
ja, marlene wird eine brücke bauen, lieber michael, so ist es.
Löschenhab dank.
herzlich,
monika
Liebe Mo,
AntwortenLöschenwer weiß, womit Marlene so sehr beschäftigt war, dass sie das Foto anders aussehen ließ. Manchmal sagt man später: Das musste so sein! Nur gut, dass der Traum einer Vorhersehung gleich kam.
Dir ein feines WE
Edith
hab dank für deine worte, liebe edith, und für deinen besuch in meinem poetischen haus.
Löschenliebe grüße,
monika
beklemmend gut geschrieben, liebe mo!
AntwortenLöschenliebe grüße
deine gabriele
dank fürs lob, liebe gabriele, freut mich, dass es gelungen ist.
Löschenherzlich,
deine mo
Liebe Monika,
AntwortenLöschenirgendwann werden alte Photographien immer wertvoller, genauso wie auch Stimmen auf Tonbändern – was bleibt, sind kleine Erinnerungsstücke und die Erinnerung...
Ist mit dem plötzlich auftgetauchten tiefen dunklen Graben die traurige Vorahnung gemeint, dass die Eltern nicht mehr unter uns weilen?
Ich hoffe, ich habe diesen wunderbaren Text, der mir sehr nahe geht, richtig verstanden.
Wieder einmal ein Lesevergnügen!
Herzliche Grüße,
Maya
vollkommen richtig verstanden, liebe maya.
AntwortenLöschender sich wölbende bergrücken, der auf der photographie beinah einer einladung gleicht, heraufzukommen, zu ihnen, den eltern, zu gehen, ist nun im traum zum graben geworden, symbol fürs trennende.
geblieben ist nur die gewissheit, nach wie vor "angesehen" zu werden, wie von der photographie.
erinnerungen sind wahrlich ein kostbares gut, das es zu hegen und pflegen gilt.
hab dank für deinen kommentar, der nun mich wiederum sehr berührt hat.
herzlich,
monika
ich kann mich nur immer wiederholen: ich liebe deine prosa!
AntwortenLöschenauch hier steht man wieder mitten im bild - diesmal im wahrsten sinne des wortes. und der plötzlich auftretende schmerz lässt einen die schultern ein- und die augen zusammen ziehen.
lieben gruß
von der lintschi
hab dank, liebe lintschi, und ja, ich weiß, dass du ein großer fan meiner prosa bist.
AntwortenLöschenfreut mich, dass auch diese dich überzeugen konnte.
liebe grüße,
die mo