Diese Geschichte beginnt in
Süddeutschland. In einer Stadt, von der Marlene adoptiert wurde, nachdem sie
hier eines Tages angekommen war mit zwei Koffern, vollgepackt mit den Resten
ihres bisherigen Lebens.
Und sie wird auch hier enden, in dieser Stadt, in der sich Marlene mittlerweile
daheim fühlt, auch wenn sie ihr selbst nach zwanzig Jahren hin und wieder noch
so fremd erscheint wie am Tage ihrer Ankunft.
Dazwischen aber schiebt sich ein anderer Ort, eine andere Gegend. Und damit
auch die erste Hälfte ihres bisherigen Lebens ...
Ein kühler Wind schlug Marlene
entgegen, als sie aus der U-Bahn stieg und ins Freie trat. Etwas Modriges lag
in der Luft, durchdrungen vom Duft nach frischem Brot, das aus einer
nahegelegenen Backstube nach draußen drang.
Es schmeckt bereits nach Herbst, dachte
sie, als sie den großen, fast menschenleeren Rathausplatz überquerte. Am
Fischbrunnen schnäbelten aufgeregte Tauben. Ob sie wohl über ihr buntes
Spiegelbild erstaunt sind, fragte sich Marlene und musste unwillkürlich
lächeln. Auf der Wasseroberfläche schwammen bereits die ersten rostroten
Blätter.
Aus den Bäumen blitzte es golden auf,
als die ersten Sonnenstrahlen über die Giebel der umliegenden Häuser lugten.
Sie würden die Morgennebel vertreiben, der Stadt und ihren Menschen einen
schönen Herbsttag schenken, dachte Marlene.
Einer plötzlichen Laune folgend bog sie
in die Rosenthalstraße ein, die zum Viktualienmarkt führt.
Eilig wurden hier Laster entladen, die
bunten Obst- und Gemüsekisten sorgfältig gestapelt, sortiert, verteilt.
Marlene schlenderte an den Ständen
vorbei und genoss das sich ihr bietende Bild.
Geschäftige Marktfrauen standen vor
bereits ausgelegter Ware, polierten noch schnell den einen oder anderen Apfel,
legten Salatgurken in Reih und Glied und zupften das grüne Kleid des
Blumenkohls zurecht. Gelb leuchteten die Birnen neben violetten Pflaumen, die
ihr dunkel-süßes Geheimnis unter einer glatten Haut verbargen, und Quitten
verströmten ihren herben Duft.
Der erdige Geruch von Pilzen weckte die Erinnerung an ferne Wälder, reife
Trauben ließen sie an üppige Weinberge denken, aus denen ein warmer, schwerer
Spätsommerduft stieg. Damals ...
Nur dass damals die Stände der
Markfrauen eher ärmlich aussahen und das Angebot recht übersichtlich war,
dachte sie bitter. Weder wurde die Ware poliert noch auf besonders ansprechende
Weise präsentiert, man war schon zufrieden, wenn es sie überhaupt gab.
Eine Kinderschar wirbelte über den
Markt und riss Marlene aus ihren Gedanken. Schulausflug, tippte sie. Die bunten
Rucksäcke wippten auf den schmalen Rücken, als ob sie mitlachten. Marlene sah
den Kindern eine Weile nach.
Während sie sich unter eine alte
Kastanie auf die Bierbänke setzten und ihre Milchschnitten auspackten, kaufte
sie sich kurzerhand eine Traube, zwinkerte dem skeptisch dreinblickenden,
bronzenen Valentin über dem Brunnen zu und ging Richtung Isar.
Während sie eine Beere nach der anderen pflückte, das saftige, volle Aroma
schmeckte, lösten sich in den Auen die letzten Nebelschwaden auf. Und in der
milden Sonne hatte Marlene plötzlich das Gefühl, als ginge sie nicht mehr an
der Isar entlang, sondern an dem aus Kindertagen vertrauten Weißbach. Die
Stadtsilhouette verschwand allmählich und an ihre Stelle trat wieder das kleine
Straßendorf, mit seinen geduckten, farbenfrohen Häusern, an denen sich
Weinreben und Rosen rankten.
Sie sah die Wehrkirche neben dem
eingezäunten Schulhof, in dessen Mitte eine üppige Kastanie angenehme Kühle
bot.
Die Turmuhr schlug acht Mal – und wie
an jedem Tag zu Schuljahresbeginn setzte sich eine Kinderkarawane in Bewegung,
zog hinaus Richtung Weinberge, die am Ende des Dorfes auf die kleinen Helfer
warteten.
„Hast
du auch Brot mit Speck dabei?“, fragte Marlene ihre Freundin.
„Ja, natürlich, was denn sonst?“, antwortete Brunhilde. „Obwohl, heute“, sie
lächelte voller Stolz, „heute habe ich sogar ein kleines Stück Schweinewurst
mitbekommen, die lässt sich gut über dem Feuer braten“. Ihre Augen glänzten.
„Ich brate heute nur Speck“, sagte Marlene. Wenn mir die Buben nur auch einen
Weidenspieß schnitzen würden, ich kann das nämlich nicht“, seufzte sie,
„außerdem darf ich kein Taschenmesser mitnehmen, das haben die Eltern
verboten.“
„Ach, denk dir nichts, die machen das schon. Für uns alle“, entgegnete Bruni.
„Man muss sie nur bitten, dann fühlen sie sich wichtig.
Aber ohne Messer kannst du doch gar nicht arbeiten“, fuhr die Freundin fort,
„die Trauben lassen sich nicht so einfach abreißen“.
„Dafür habe ich ja auch eine kleine Schere mitgenommen, du, das ist nicht so
gefährlich“, sagte Marlene.
Nach gut einer Stunde hatten die Kinder die staatlichen Weinberge erreicht.
Dort wartete bereits ein Traktor mit Anhänger auf sie, der sie das letzte Stück
hinauf fahren sollte. Ein Riesenspaß war das jedes Mal. Die Sonne hatte sich
mittlerweile durch den Morgennebel gekämpft. In der dunstigen, noch kühlen Luft
war der süße Duft der Trauben zum Greifen nah. In der Ferne schlängelte sich
das Silberband des Baches durchs Tal, Maisfelder leuchteten durchs rostige Laub
und vereinzelt durchdrang der Ruf eines Kuckucks die Stille, die mit der
Ankunft der Kinder jäh beendet wurde.
Ausgerüstet mit Weidenkörben übernahmen immer je zwei Kinder eine Reihe der
Rebstöcke. Marlene arbeitete stets mit ihrer Freundin zusammen.
Wer würde heute die schönste, die größte Traube finden? Wer als erster seine
Reihe abgeerntet haben? Flink griffen die kleinen Finger ins morgenfeuchte
Weinlaub, legten zwischen den herzförmigen Blättern nicht selten ein
glitzerndes Spinnennetz frei, Traube um Traube füllte die Körbe und ... die
Mägen der Kinder, die essen durften, so viel sie wollten und konnten.
Bald schon kündigten Rauchschwaden die
Mittagspause an.
Flink hatten die Jungen Spieße
geschnitzt und schon scharten sich alle ums Feuer.
Niemals wieder hatte Marlene eine
köstlichere Brotzeit genossen als jene im sonnenwarmen Weinberg, die, war sie
auch noch so bescheiden, so doch um alle Farben und Düfte des Herbstes
bereichert wurde.
Kinderarbeit, dachte Marlene, während
sie die letzte Beere an der Isar genoss,
Kinderarbeit, was denn sonst?
In gewissem Sinne war es das sicherlich
auch, was in ihrem Dortheim vor langer Zeit stattgefunden hatte. Doch so
empfunden hatten sie es damals nicht, die Kinder, vielmehr als eine Art
verlängerter Ferien.
Wie lange schon sind diese Erinnerungen
nicht mehr zurückgekehrt, wunderte sich Marlene. Was so eine Weintraube an
einem Septembermorgen nicht alles vermag, lachte sie und schritt vergnügt über
die Wittelsbacher Brücke zurück in den Tag.
/c/ Monika Kafka, 2009