"Welch ein Kontrast, finden Sie nicht auch?“
Überrascht, beinah erschrocken blickte sich Scarlett um.
Hatte der Mann, der plötzlich hinter ihr stand, tatsächlich zu ihr gesprochen?
In den Räumen der Pinakothek befanden sich um diese Uhrzeit nur wenige Besucher. Aus diesem Grund verbrachte sie, nachdem sie rasch eine Kleinigkeit gegessen hatte, ihre Mittagspausen gerne hier. Genoss die Ruhe in den klimatisierten Räumen. Ließ sich von Saal zu Saal treiben. Oder machte es sich auf einem der Ledersitze bequem. Manchmal vertieft in den Anblick eines Gemäldes. Hin und wieder auch schon in eine anstehende Verhandlung, die sie als Leiterin der Bank nebenan erwartete.
„Wie meinen Sie das denn?“, fragte sie und musterte gleichzeitig ihren ungebetenen Gesprächspartner. Groß. Dunkle Haare. Wache Augen. Gut gekleidet.
„Ich meine, wir stehen hier in einem angenehmen lichtdurchfluteten Raum, auf tadellos gebohnertem Parkett, sind satt und müssen nicht frieren. Und starren auf dieses finstere Bild aus einer anderen Zeit.“
Scarlett fühlte sich mit einem Mal wie ertappt, ohne dass sie genau hätte sagen können, wobei. Und wodurch. Sie merkte nur, dass ihre Füße in den Highheels plötzlich schmerzten, das Prada Kostüm war ihr unangenehm. Sie schwitzte. Zog aus ihrer eleganten Handtasche ein Taschentuch, mit dem sie sich die Stirn abtupfte.
„Und dennoch hat sich nichts wirklich verändert“, fuhr der Mann neben ihr fort. Wandte den Blick von ihr ab und wieder Uhdes Bild zu.
„Also, hören Sie mal, wir leben im 21. Jahrhundert. Was sagen Sie denn da? Natürlich hat sich was verändert, oder laufen Sie immer noch durch die Dunkelheit auf unbefestigten schlammigen Wegen?“, entgegnete sie mit hochmütigem Blick. „Tragen Ihre Habseligkeiten auf dem Rücken, weil Sie keine Arbeit und deshalb keine Bleibe haben und stützen zudem Ihre Frau, die sich fürs Kinderkriegen entschlossen hat, statt etwas zu lernen. Jeder wie er will, nicht wahr.“
Warum nur dieser aggressive Unterton in meiner Stimme, wunderte sie sich. Und ärgerte sich insgeheim darüber, kam er ihr doch wie ein halbes Eingeständnis vor.
„Erlauben Sie“, sagte der Mann und seine Stimme klang weich. Zog mit feingliedrigen Fingern aus seiner Geldbörse eine Visitenkarte und überreichte sie ihr.
„Abdul Farad, Architekt. Sollten Sie zufällig eine Wohnung oder ein Haus zu vermieten haben und sollten Sie gewillt sein, das auch an einen derzeit arbeitslosen Vater von drei Kindern zu tun, so würden meine Frau und ich uns sehr glücklich schätzen. Schlammige Wege und Dunkelheit“, sagte er mit einem letzten Blick auf Uhdes Gemälde, „müssten heute wahrlich nicht mehr sein“.
Nickte ihr freundlich zu und verließ den Raum.
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/c/ monika kafka, 11/12