Trude Vandory, Kirchenburg in Frauendorf, Holzschnitt Tagsüber hatte es wieder geschneit. Dicke, wollige Flocken legten sich unbeirrbar auf den kleinen Ort. Schicht um Schicht.
Mit der Dämmerung war die Kälte gekommen. Die gläserne Luft raubte einem beinahe den Atem und der gefrorene Schnee ächzte unter jedem Schritt. Von einem fernen Gehöft bellte ein Hund. Sonst war es still.
Auf der spärlich beleuchteten Dorfstraße stapften drei Gestalten durch die anbrechende Nacht. Vorbei an dunklen Häusern, aus deren Kaminen milchiger Rauch aufstieg, vorbei an Höfen, die so verlassen wirkten wie die Glühbirnen, die sie beleuchten sollten und deren Licht nur klein und dünn schimmerte. Hinter den verwitterten Rollläden konnte man die festlich geschmückten Weihnachtsbäume in den Guten Stuben nur erahnen.
Wie so oft war der Bus einfach nicht gekommen. Eine Erklärung dafür gab es nicht.
Ein zwei Kilometer langer Fußmarsch trennte Mutter und Kinder noch von der kleinen Wehrkirche inmitten des Dorfes. Zwei Kilometer durch die eisige und eigentlich verbotene Nacht, die der aufgeklärte Sozialismus am liebsten abgeschafft hätte. Er bedurfte ihrer nicht. Die Menschen wurden nicht gefragt.
„Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging ...“
Während der kleine Junge sich fest an die Mutter schmiegte und nur ab und zu wagte, in einen der Schneehaufen zu hüpfen, redete das Mädchen unaufhörlich vor sich hin. Sein Wunsch, beim Krippenspiel dabeizusein, hatte sich auch in diesem Jahr nicht erfüllt. Dabei wäre es so gerne die Maria gewesen oder zumindest ein kleines Schäfchen.
„Oder ein Mäuschen, Mama, wenigstens ein Mäuschen, das hat es im Stall von Bethlehem sicherlich auch gegeben“ sagte es leise. Und leichter Trotz klang mit.
Stattdessen sollte es nun die Weihnachtsgeschichte nach Lukas vortragen mit seiner klaren, sicheren Stimme. Darauf war es schon stolz, dennoch blieb das ein schwacher Trost. Eine Geschichte vortragen und eine Geschichte spielend erleben – das war eindeutig nicht dasselbe.
„Und Mama, kommt das Christkind heuer ganz bestimmt auch zu uns nach Hause?“ fragte der kleine Junge mittendrin. „Werden wir auch wieder einen Weihnachtsbaum haben?“
Selbst die Kinder wussten bereits, dass es in jenen Jahren durchaus keine Selbstverständlichkeit war, pünktlich zum Fest einen zu bekommen, was keine Frage des Geldes war.
Seit Tagen schon verfolgten die Geschwister das Geschehen im Hause mit größter Aufmerksamkeit.
Da wurde geputzt und gekocht, gebacken und getuschelt – die Kinderfrau und die Mutter hatten plötzlich ganz viele Geheimnisse und alle Hände voll zu tun. Nur im Verhalten des Vaters schien nichts außergewöhnlich zu sein. Er kam wie immer spät nach Hause, spielte und lachte mit ihnen und brachte hin und wieder Geschenke von den Bauern mit, deren Vieh er im Laufe des Jahres behandelt oder gar gerettet hatte. Jetzt, zu Weihnachten, nachdem die Schweine geschlachtet waren, wurde auch er aus Dankbarkeit mit Wurst und Fleisch bedacht.
Doch so sehr sich die Kinder auch anstrengten, alles genauestens zu verfolgen, was rund um sie geschah, einen Tannenbaum hatten sie nicht entdecken können. Weder auf dem Balkon, noch im Keller. Einigermaßen beruhigt hatten sie festgestellt, dass sich im großen Kleiderschrank der Eltern zwar bunte Päckchen häuften, also konnte Weihnachten wohl nicht ganz ausfallen, doch was war dieses Fest ohne Baum? Ohne schimmernde Kugeln und leuchtende Kerzen, ohne Lametta und Salonzucker, von dem am Ende der Feiertage nur glänzendes Stanniol übrigblieb und an vergangene Süße erinnerte? Und ohne Orangen, den duftenden, süßherben Früchten aus einem fernen Land?
„Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war ...“
Als sie am Haus des Lehrers vorbeigingen, wehte ihnen ein leichter Wind die ersten Glockentöne entgegen. Nun war es nicht mehr weit.
Bald darauf erreichten sie das Haus des Schneiders, und da war auch schon die kleine Brücke, hinter der sich die Kirche und die sie massig umringende Mauer schemenhaft in der Dunkelheit abzeichneten. Das angrenzende Schulgebäude stand ebenso verwaist da wie die umliegenden Häuser. Sie waren wirklich spät dran.
„ ... denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
Das große Eichentor öffnete sich mit einem leichten Knarren. Sie betraten den Kirchhof, eilten dem überwölbten Eingang zur Kirche entgegen, vorbei an den Speckkammern und dem fast schon geheimen Stübchen, in dem samstags der zwar verbotene jedoch tolerierte Religionsunterricht stattfand.
Wie oft schon hatten diese Mauern im Laufe der Jahrhunderte Schutz und Geborgenheit geboten und das nicht nur am Weihnachtsabend? Wer hätte an diesem Winterabend geahnt, daß sie einmal selber schutzlos dastehen würden, angewiesen auf barmherzige oder edle Spendengelder – je nachdem – von denen, die sie verlassen sollten, um ihr Glück in der Fremde zu suchen, in einer Gemeinschaft, die nicht die ihre sein würde?
An diesem Abend freilich war davon noch nichts zu spüren und auch nicht daran zu denken. An diesem Abend war alles so wie immer.
Auch wenn die drei Verspäteten wussten, was sie beim Betreten der Kirche erwartete, verschlug es ihnen wie jedes Jahr erstmal den Atem.
In vollkommener Stille und erhaben in seiner Schlichtheit stand er da, vor dem Altar: der Christbaum. Geschmückt mit Äpfeln, Nüssen und Strohsternen, war er eingetaucht in mildes, hundertfaches Kerzenlicht, das sich in staunenden Kinderaugen spiegelte.
In Festtagstracht gekleidet, kunstvoll bestickten Kirchenpelzen und langen Borten, saßen Männer und Frauen streng voneinander getrennt in ihren Bankreihen.
Als die kleine Orgel erklang und die Gemeinde „Vom Himmel hoch“ anstimmte, ahnten alle, dass sich nun tatsächlich das Wunder von Weihnachten, wenn auch nicht wiederholen, so doch in der Erinnerung daran ereignen könnte und somit niemals verloren sein würde.
Als die Mutter mit ihren Kindern spätabends in den Bus stieg und die gut zwei Kilometer heimwärts fuhr, nahmen sie das Licht der kleinen, alten Dorfkirche sowie die Hoffnung auf friedliche Tage mit nach Hause. Vater würde – wie jedes Jahr – das Glöckchen läuten und danach erstaunt das Fenster schließen, durch das ein letzter, kalter Windzug in die warme Stube drängte, gleich dem verirrten Flügelschlag eines fernen und doch anwesenden Engels. Der Weihnachtsbaum leuchtete sicherlich, wie immer. Und vielleicht würde es auch wieder Orangen geben und jenen Duft, in den Weihnachten damals getaucht war, den fernen, geheimnisvollen Duft von Bethlehem ...
(c) Text und Bild: Monika KafkaIch wünsche allen meinen Freunden und Lesern eine schöne, friedvolle Weihnachtszeit!Eure Monika