Nachdem er den Tag verräumt hatte, setzte sich der Onkel auf die Bank vor seinem Haus und blinzelte in die untergehende Sonne. Die Turmuhr schlug sechs Mal und dazwischen knallten Peitschenhiebe. Von einer lärmenden Kinderschar begleitet, würde das Vieh bald die Dorfstraße entlang kommen, angetrieben von Ion, dem Hirten.
Umständlich drehte sich der Onkel, der nicht mein Onkel war, eine
Nationale. Zündete sie an, lehnte sich zurück und stieß genüsslich blaue Kringel in die Luft.
So wartete er bei schönem Wetter immer, auch wenn vor seinem Tor schon seit Jahren keine Kuh mehr stehen blieb. Wartete auf diesen Augenblick, da der Tag dem Abend die Hand zum Abschied reichen würde.
Bevor es jedoch soweit war, saß er einfach nur da. Rauchte und lächelte in den schmalen Lichtstreifen am Horizont. Hatte er die Augen geschlossen, schien mir, als würde sich hinter seinen Lidern der Vorhang zu einem geheimen Theater heben, in dem er der einzige Zuschauer war.
Ich habe ihn nie gefragt, was auf dieser Bühne gespielt wurde. Ich setzte mich einfach zu ihm in seine Stille.
Manchmal, wenn er die Augen kurz öffnete und mich sah, lachte er mir zu. Dann hüpfte der kleine Schnauzbart an seiner Oberlippe auf und ab, und die bauschigen Ärmel seines Leinenhemdes legten sich an den Schultern in windige Falten.
Es schwieg sich gut zusammen.
„Der Onkel träumt“, pflegte seine Frau zu sagen.
Ich wusste schon damals nicht genau, was sie damit meinte. Wie kann der Onkel denn träumen, wenn er doch gar nicht schläft, fragte ich mich stattdessen.
Und selbst heute bin ich mir nicht sicher, ob die Tante ihn insgeheim darum beneidete oder ob sie nicht doch leise über ihn spottete.
Sie hatte ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die sie festgesteckt um den Kopf herum trug. In diesem Haarnest verbargen sich ihre Gedanken. Und vielleicht, so malte ich mir weiter aus, auch ihre kleinen Spatzen, die sie nicht hatte großziehen können. Deshalb war sie Kinderfrau geworden, hatte mich lieb und ihre Lieben dennoch stets bei sich.
Für die Tante nämlich, die nicht meine Tante war, war der Tag niemals verräumt. Sie hielt ihn ständig in den Händen. Nur in der Kirche faltete sie ein Gebet dazwischen. Sonntags. Und nur wenn sie danach, noch in Festtagstracht gekleidet, neben ihrem Mann auf der Bank saß, legte sie die Hände in den Schoß. Dann ließen beide, Onkel und Tante, das Leben auf der Straße an sich vorüberziehen: schwatzende junge Menschen, Städter auf Verwandtschaftsbesuch, vereinzelt Fremde und immer häufiger durchrasende Autos.
Eines Tages, ich war schon längst erwachsen, kam auch ich mit einem dieser fremden, schnellen Autos von weither angereist. Ich setzte mich wie früher neben den Onkel auf die Bank in der dünnen Sonne. Nach einer Weile fragte er plötzlich:
„Sag mal, wie schaut es denn heute eigentlich in München aus?“
Ich war so verblüfft, dass ich ihn zunächst nur ungläubig anstarrte. Noch nie hatte er mich während seiner Abendstunde angesprochen.
Was soll ich ihm erzählen von einer Stadt, einer Großstadt, deren Ausmaß an Leben und Weite er, der seine kleinen Tage in seinem kleinen Dorf verbrachte, sicherlich nicht wird begreifen können? Und meine Antwort ließ auf sich warten. Zu lange, denn er fuhr fort:
„Erzähl mir vom Marienplatz. Es ist doch bestimmt wieder alles aufgebaut und schön hergerichtet worden. Beschreib es mir. Und dann den Rindermarkt, die Straße mit der Asamkirche, ach ja, und das Sendlinger Tor, die Sonnenstraße ... Gibt es wieder Trambahnen?“
Jetzt verschlug es mir erstrecht die Sprache. Die Straßennamen, der Rathausplatz, er sprach alles so selbstverständlich aus. Nannte zusätzlich Details, als befände er sich gerade auf einem Spaziergang durch die Innenstadt, als sähe er Bilder, die ich niemals gesehen hatte. Und dann erzählte er weiter: von zerstörten Häusern und Straßen und herumirrendem, hungrigem Leid, von löchriger Angst und müden Soldaten, von wunden Füßen und schmerzhaften Wegen und schließlich von dem einen, unendlich langen. Durch all die Aschezeit hindurch bis ins Land jenseits der Wälder. Zurück nach Hause.
Von diesem Tage an saß der Onkel nicht mehr allein in seinem Theater, wenn ich ihn besuchte. Und vielleicht hatte sich auch die Vorstellung allmählich zu verändern begonnen. Für ihn. Ganz sicher jedoch für mich.
/c/ monika kafka, im grüngefädelten licht, 2008