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abgelegt und fortgegangen (c) Dieter Vandory
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Samstag, 8. September 2012

Dortheim




Diese Geschichte beginnt in Süddeutschland. In einer Stadt, von der Marlene adoptiert wurde, nachdem sie hier eines Tages angekommen war mit zwei Koffern, vollgepackt mit den Resten ihres bisherigen Lebens.
Und sie wird auch hier enden, in dieser Stadt, in der sich Marlene mittlerweile daheim fühlt, auch wenn sie ihr selbst nach zwanzig Jahren hin und wieder noch so fremd erscheint wie am Tage ihrer Ankunft.
Dazwischen aber schiebt sich ein anderer Ort, eine andere Gegend. Und damit auch die erste Hälfte ihres bisherigen Lebens ...

Ein kühler Wind schlug Marlene entgegen, als sie aus der U-Bahn stieg und ins Freie trat. Etwas Modriges lag in der Luft, durchdrungen vom Duft nach frischem Brot, das aus einer nahegelegenen Backstube nach draußen drang.

Es schmeckt bereits nach Herbst, dachte sie, als sie den großen, fast menschenleeren Rathausplatz überquerte. Am Fischbrunnen schnäbelten aufgeregte Tauben. Ob sie wohl über ihr buntes Spiegelbild erstaunt sind, fragte sich Marlene und musste unwillkürlich lächeln. Auf der Wasseroberfläche schwammen bereits die ersten rostroten Blätter.
Aus den Bäumen blitzte es golden auf, als die ersten Sonnenstrahlen über die Giebel der umliegenden Häuser lugten. Sie würden die Morgennebel vertreiben, der Stadt und ihren Menschen einen schönen Herbsttag schenken, dachte Marlene.
Einer plötzlichen Laune folgend bog sie in die Rosenthalstraße ein, die zum Viktualienmarkt führt.

Eilig wurden hier Laster entladen, die bunten Obst- und Gemüsekisten sorgfältig gestapelt, sortiert, verteilt.
Marlene schlenderte an den Ständen vorbei und genoss das sich ihr bietende Bild.
Geschäftige Marktfrauen standen vor bereits ausgelegter Ware, polierten noch schnell den einen oder anderen Apfel, legten Salatgurken in Reih und Glied und zupften das grüne Kleid des Blumenkohls zurecht. Gelb leuchteten die Birnen neben violetten Pflaumen, die ihr dunkel-süßes Geheimnis unter einer glatten Haut verbargen, und Quitten verströmten ihren herben Duft.      
Der erdige Geruch von Pilzen weckte die Erinnerung an ferne Wälder, reife Trauben ließen sie an üppige Weinberge denken, aus denen ein warmer, schwerer Spätsommerduft stieg. Damals ...

Nur dass damals die Stände der Markfrauen eher ärmlich aussahen und das Angebot recht übersichtlich war, dachte sie bitter. Weder wurde die Ware poliert noch auf besonders ansprechende Weise präsentiert, man war schon zufrieden, wenn es sie überhaupt gab.

Eine Kinderschar wirbelte über den Markt und riss Marlene aus ihren Gedanken. Schulausflug, tippte sie. Die bunten Rucksäcke wippten auf den schmalen Rücken, als ob sie mitlachten. Marlene sah den Kindern eine Weile nach.
Während sie sich unter eine alte Kastanie auf die Bierbänke setzten und ihre Milchschnitten auspackten, kaufte sie sich kurzerhand eine Traube, zwinkerte dem skeptisch dreinblickenden, bronzenen Valentin über dem Brunnen zu und ging Richtung Isar.

Während sie eine Beere nach der anderen pflückte, das saftige, volle Aroma schmeckte, lösten sich in den Auen die letzten Nebelschwaden auf. Und in der milden Sonne hatte Marlene plötzlich das Gefühl, als ginge sie nicht mehr an der Isar entlang, sondern an dem aus Kindertagen vertrauten Weißbach. Die Stadtsilhouette verschwand allmählich und an ihre Stelle trat wieder das kleine Straßendorf, mit seinen geduckten, farbenfrohen Häusern, an denen sich Weinreben und Rosen rankten.
Sie sah die Wehrkirche neben dem eingezäunten Schulhof, in dessen Mitte eine üppige Kastanie angenehme Kühle bot.
Die Turmuhr schlug acht Mal – und wie an jedem Tag zu Schuljahresbeginn setzte sich eine Kinderkarawane in Bewegung, zog hinaus Richtung Weinberge, die am Ende des Dorfes auf die kleinen Helfer warteten.

„Hast du auch Brot mit Speck dabei?“, fragte Marlene ihre Freundin.
„Ja, natürlich, was denn sonst?“, antwortete Brunhilde. „Obwohl, heute“, sie lächelte voller Stolz, „heute habe ich sogar ein kleines Stück Schweinewurst mitbekommen, die lässt sich gut über dem Feuer braten“. Ihre Augen glänzten.
„Ich brate heute nur Speck“, sagte Marlene. Wenn mir die Buben nur auch einen Weidenspieß schnitzen würden, ich kann das nämlich nicht“, seufzte sie, „außerdem darf ich kein Taschenmesser mitnehmen, das haben die Eltern verboten.“
„Ach, denk dir nichts, die machen das schon. Für uns alle“, entgegnete Bruni. „Man muss sie nur bitten, dann fühlen sie sich wichtig.
Aber ohne Messer kannst du doch gar nicht arbeiten“, fuhr die Freundin fort, „die Trauben lassen sich nicht so einfach abreißen“.
„Dafür habe ich ja auch eine kleine Schere mitgenommen, du, das ist nicht so gefährlich“, sagte Marlene.

Nach gut einer Stunde hatten die Kinder die staatlichen Weinberge erreicht. Dort wartete bereits ein Traktor mit Anhänger auf sie, der sie das letzte Stück hinauf fahren sollte. Ein Riesenspaß war das jedes Mal. Die Sonne hatte sich mittlerweile durch den Morgennebel gekämpft. In der dunstigen, noch kühlen Luft war der süße Duft der Trauben zum Greifen nah. In der Ferne schlängelte sich das Silberband des Baches durchs Tal, Maisfelder leuchteten durchs rostige Laub und vereinzelt durchdrang der Ruf eines Kuckucks die Stille, die mit der Ankunft der Kinder jäh beendet wurde.


Ausgerüstet mit Weidenkörben übernahmen immer je zwei Kinder eine Reihe der Rebstöcke. Marlene arbeitete stets mit ihrer Freundin zusammen.

Wer würde heute die schönste, die größte Traube finden? Wer als erster seine Reihe abgeerntet haben? Flink griffen die kleinen Finger ins morgenfeuchte Weinlaub, legten zwischen den herzförmigen Blättern nicht selten ein glitzerndes Spinnennetz frei, Traube um Traube füllte die Körbe und ... die Mägen der Kinder, die essen durften, so viel sie wollten und konnten.
Bald schon kündigten Rauchschwaden die Mittagspause an.
Flink hatten die Jungen Spieße geschnitzt und schon scharten sich alle ums Feuer.

Niemals wieder hatte Marlene eine köstlichere Brotzeit genossen als jene im sonnenwarmen Weinberg, die, war sie auch noch so bescheiden, so doch um alle Farben und Düfte des Herbstes bereichert wurde. 

Kinderarbeit, dachte Marlene, während sie die letzte Beere an der Isar genoss, Kinderarbeit, was denn sonst?

In gewissem Sinne war es das sicherlich auch, was in ihrem Dortheim vor langer Zeit stattgefunden hatte. Doch so empfunden hatten sie es damals nicht, die Kinder, vielmehr als eine Art verlängerter Ferien.

Wie lange schon sind diese Erinnerungen nicht mehr zurückgekehrt, wunderte sich Marlene. Was so eine Weintraube an einem Septembermorgen nicht alles vermag, lachte sie und schritt vergnügt über die Wittelsbacher Brücke zurück in den Tag. 



/c/ Monika Kafka, 2009


Freitag, 31. August 2012

Münchner Notizen




Dass die „Weltstadt mit Herz“ im Grunde genommen nichts anderes sei als ein großes Kuhdorf, diese Ansicht wird oft und gern vertreten. Und das nicht nur hinter vorgehaltener Hand.

Seit dreißig Jahren lebe ich schon hier, achtzehn davon in einem Stadtteil, der, so kann ich mit Fug und Recht behaupten, besser ist als sein Ruf. Nicht nur, dass er über eine hervorragende Infrastruktur verfügt, er besitzt auch etwas, das in weitaus nobleren Vierteln eher Mangelware ist: nämlich Grün.

Vom elften Stockwerk aus ist dies besonders augenfällig: der Blick fällt nicht etwa in die Tiefe, sondern taucht ein in ein Meer aus vielschichtigem Grün. Die Bäume sind mittlerweile so hoch, dass die Betonfluchten darin wie Inseln scheinen, von denen nur der jeweils höchste Punkt noch sichtbar ist. Darüber hinweg fliegt das Auge bis zum Waldesrand und bleibt schließlich am Saum der Alpen unwiderruflich hängen. An Tagen, an denen der Föhn sein Spiel mit Wolken und kopfwehgeplagten Einwohnern auf die Spitze treibt, ist jede einzelne davon zu erkennen: ein wildgezacktes Band, durchschnitten von dunkelgeahnten Tälern.

Auf meinem Weg zur U-Bahn, die mich in weniger als einer Viertelstunde wieder ausspuckt mitten in der Stadt, gehe ich aber täglich an einem ganz anderen Wunder vorbei. Zwischen drei, zu Stoßzeiten relativ befahrenen Straßen und einem großen kastanienbepflanzten Platz, auf den sich vereinzelt Robinien eingeschlichen haben und der wochentags als Parkplatz dient, liegt ein Stück Land, das offenbar niemandem gehört. Was natürlich nicht sein kann, denke ich mir, weil doch immer alles irgendwem gehört. Ich hab mich bisher nicht getraut, dem nachzuforschen, vielleicht aus Angst, dass sich vielleicht Besitzansprüche schneller klären, als mir das lieb wäre. Man weiß ja nie, in welches Wespennest man gerade sticht. Es handelt sich um eine Wiese, die erst zum Sommerende wenn überhaupt gemäht wird. Nie ist es mir gelungen, den Zeitpunkt zu erwischen, da sich dort jemand den Mühen dieser Arbeit unterzieht. So oft ich auch darauf geachtet habe: an einem Tag ist sie noch da, am nächsten – weg.
 
Wenn nach langen Wintertagen und feuchtem Schmuddelwetter der Boden langsam sich begrünt, ist es an der Zeit für mich, hier offeneren Auges vorbei zu gehen. Den Schritt zu zügeln. Die Luft bewusster einzuatmen. Um wahrzunehmen, wie früh oder wie spät es tatsächlich ist im Jahr.

Zwischen hellgrünen Gräsern schimmert als erster vereinzelt Huflattich, dicht gefolgt von Hahnenfuß und Wiesenveilchen. Und wenn die Sonne gnädig ist, verwandeln bald schon Löwenzahn und Margeriten, Taubnesseln und Glockenblumen das Stückchen Land in einen buntbestickten Teppich, an dessen Rand, zur großen Straße hin, Holunderbüsche auf ihren Einsatz warten. Dazwischen ranken Heckenrosen mit ihren filigranen Blüten. Es flügelt und flattert, summt und brummt, hörbar durchaus. Im Wettstreit mit Motorenlärm, der sich hier wie durch ein Wunder noch in annehmbaren Grenzen hält.

Jetzt, im Juli, nach reichlich Regen und ein paar sengendheißen Tagen, wuchern wilde Möhre, Schafgarbe und Rosenmalve. Hüfthoch stehn die Gräser, wogend im leichten Wind, der Klee wird schier erdrückt. Und wenn nach einem Schauer der Boden dampft, liegt dieser unverwechselbare Duft von Sommer in der Luft, von Kindheit und von einem fernen Garten, den es lang schon nicht mehr gibt.

Wie groß mag sie denn sein, die wilde Wiese? Ich weiß es nicht, ich war schon immer schlecht im Schätzen. Jedenfalls scheint sie mir groß genug, um irgendwann bebaut zu werden mit einem unnütz Ding. Doch Jahr für Jahr vergeht und nichts geschieht. Sie lebt und blüht und wuchert. Vielleicht auch nur für mich.
In diesem Kuhdorf, meinem München.






/c/ Monika Kafka, 08/12

Mittwoch, 27. Juni 2012

Notizen aus der Steiermark, I, Mariatrost


Es ist heiß an diesem Tag. Stille säumt den kurzen ansteigenden Weg.
Zwei Häuser nur. Am Ende, rechter Hand, die Nummer vier.                  
Im Garten wuchert Sommer. Dunkelgrün und bunt. Von einem Eisentor bewacht,  den Blicken dennoch preisgegeben.

Hier also hat sie einst gelebt. In diesem Haus, das einer Villa gleicht. Und das seit gut einem Jahrhundert baulich unverändert blieb. Die Ansichtskarte fällt mir ein, die sich vergilbt in einem Fotoalbum findet. Und ich vergleiche das verinnerlichte Bild mit dem, das meine Augen heute sehen. Es stimmt überein bis ins Detail.

Ein Lächeln streift von ferne mein Gesicht, als ich mich an die Randnotiz erinnere, die Großmutter damals der Karte beigegeben: unsere Villa steht da in krakeliger Kinderschrift.

Die Mauern atmen schattig. Die Fenster – eine andere Zeit. 
Klein und filigran bis hinauf unter das Dach sind sie bestrebt, mehr zu verbergen als zu zeigen. Und teure Wärme nicht hinaus zu leiten.

Ob es wohl kalt war hinter diesen Steinen, wenn sich darauf der Winter legte? Wie kam sie bloß zur Schule, wenn Eis den abschüssigen Weg bedeckte? Die Straßenbahn nach Graz fuhr damals schon, doch bis zur Haltestelle war es weit.
Gab es für sie wohl Pferd und Kutsche?

Keiner wird das Tor mehr öffnen.
Und ich muss auskommen mit dem, was ich an Zuwendung und Wärme von Großmutter erhalten hab. Und weiter mit den Fragen leben.

Eine luftige Garage, wie man sie oft im Süden sieht, nicht viel mehr als ein überdachter Platz, schließt ab den Blümelweg. Dahinter öffnen sich die wilden Wiesen, geben frei den Blick auf das, was Großmutter gesehen hat. Die Wallfahrtskirche reckt ihre gelben Türme weit hinaus ins Blau. Postkartenblick. Und dennoch echt. Und wieder drängt ein anderes Bild aus der Erinnerung herauf: mit leichtem Pinselstrich in warmen Farben von der Jugendlichen festgehalten, stilisiert zum Aquarell.

Es zirpt und summt und flügelt. Kein andrer Laut stört die Idylle, nicht nur die Landstraße ist fern. Ich setze mich ins Grün, halt Zwiesprache für eine Weile. Mit Gräsern, Blumen und dem Wind. Und hör dazwischen plötzlich ihre Stimme, die aufsteigt aus dem Dunkel, das wohl ein jeder in sich trägt und das zuweilen aufbricht für Momente, wenn wir nur leicht den Schlüssel drehen im Schloss zum Tore der Vergangenheit. 

Und unter steirischer Sonne begreife ich zum ersten Mal, warum sich Großmutter niemals zurückgesehnt, als sie mit Großvater in jenes ferne Land gezogen: sie fand dort eine Landschaft vor und eine Lebensform, die nahtlos passte zu der ihren.
Ganz viel /Maria/Trost in Siebenbürgen.




















/c/ Text: Monika Kafka, 06/12
Bild: Thom Kafka, 06/12

Sonntag, 27. Mai 2012

Claus Stephani, Der Rasen







Ich freue mich sehr, Claus Stephani erneut als Gast auf meinem Blog begrüßen zu dürfen.
Allen meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine anregende Lektüre!



/c/ dieter vandory, seelebaumelwiese, 2012






















Heute habe ich in meinem Garten den Rasen gemäht. Nun sitze ich auf der Terrasse, betrachte das Grundstück, auf dem es bis vor einer Stunde noch eine kleine Wiese gab, und mir ist dabei nicht wohl zumute. Denn dieser Rasen schaut jetzt beinahe auch so aus wie alle anderen Grünflächen in der Nachbarschaft. Beinahe, muss ich einschränkend wiederholen, nur beinahe. Denn da stehen noch mitten im Rasen einige kleine Inseln mit Hahnenfuß, Leimkraut, Margareten, Tausendschönchen und anderen Blumen, deren Namen ich nicht kenne. Ich bin mit dem gefräßigen Rasenmäher vorsichtig um sie herumgefahren. Und so ist mein Rasen jetzt immer noch nicht einheitlich und sauber, wie ein richtiger Rasen zu sein hat. Die Nachbarn aber werden sich weiterhin wundern und seltsame Beobachtungen anstellen: „Was sind das nur für Leute, die dort wohnen? Ihr Rasen schaut ja aus wie eine Wiese?“
     Es ist schon viele Jahre her, als ich zum erstenmal einen richtigen Rasen sah und mir damals ähnliche Fragen stellte.
     Wir lebten erst seit etwa zwölf Stunden in Deutschland, und meine Eltern hatten uns für ein paar Tage bei Bekannten eingemietet, damit wir nicht in ein sogenanntes Übergangslager ziehen müssen. Es war ein Reihenhaus, und auf dem kleinen Grundstück gab es eigentlich nur einen phantasielosen grünen Rasen und einen schelmisch lachenden Gartenzwerg, der auf einem Steinsockel stand und unentwegt zum Haus blickte.
     An jenem Tag kehrten die beiden Vermieter von einer längeren Ferienreise zurück, und ihr erster Weg führte selbstverständlich zu ihrem Rasen hinter dem Haus. Und da hörte ich plötzlich einen schmerzlichen Aufschrei. Denn im einheitlich gepflegten Gras hatten sich, während ihrer Abwesenheit, ahnungslos rasenfremde Blumen angesiedelt. Darunter waren auch solche, die ich zuvor genannt habe.
     Und nun folgte sogleich eine hektische Strafaktion, denn jede kleine Blume, die auf einem sauberen deutschen Rasen nichts zu suchen hat, wurde einzeln und mit Wurzel entfernt. In die dadurch entstandenen Lücken aber streute man rasch etwas Rasensamen und bedeckte ihn mit schwarzer Gartenerde aus einem großen Plastiksack. Dann bekam die Saat auch etwas Regenwasser, das man mit einer kleinen Gießkanne aus einer Tonne schöpfte.
     Ich beobachtete diese Leute und wunderte mich, denn so etwas hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Soviel Aufregung wegen ein paar kleinen Blumen. Und die Gründlichkeit, mit der man bei ihrer Entfernung und Vernichtung vorging. Kein ängstliches Gänseblümchen, auch wenn es noch gar nicht zu blühen gewagt hatte und sich irgendwie verstecken wollte, blieb unentdeckt. Denn man erkannte es schon an seinen runden Blättern. So wurde der Rasen langsam aber sicher von allen Fremdpflanzen gesäubert. Und schließlich war er „unkrautfrei“, wie die Vermieterin schließlich meinte, worauf ich nichts erwidern konnte.
     Dann aber fragte sie mich, wobei sie die Antwort wie selbstverständlich gleich vorwegnahm, weil man ja über einen Einwanderer aus dem Osten sowieso alles schon zu wissen meint: „So etwas gab es wohl nicht bei euch in Bukarest? Einen richtigen Rasen, wo nicht alles durcheinander wächst? Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, dass sich dort jemand die Mühe gemacht hätte, seinen Rasen sauber zu halten.“
     Was sollte ich darauf antworten? Sollte ich vielleicht erzählen, dass ich früher im Herbst manchmal nach Siebenbürgen gefahren bin, oder nach Marmatien zu den weiten Wiesen am Rande der Karpaten, wo die vielen wilden Blumen wachsen? Ich hatte einen kleinen Sack mit dabei und sammelte Samen ein, die ich von den trockenen Blütenähren streifte. Dann verstreute ich diese Samenkörner auf der kleinen Wiese in meinem Garten hinter unserem Haus. So gab es da bald Blumen wie in den Karpaten, Blumen, die sich dann selbst weiter versämten. Und die Nachbarn schauten manchmal über den Zaun und sagten bewundernd: „Wie viele Blumen da auf eurem Rasen wachsen! Wie macht ihr das nur, dass euer Rasen immer so bunt ist?“
     Als die Vermieterin dann mit einem feuchten Tuch das ewig lachende Gesicht des Gartenzwergs vom Staub der letzten Wochen liebevoll säuberte, sagte ich: „Du hast recht, so etwas gab es dort nicht.“ Und da hatte ich sogar die Wahrheit gesagt und konnte mit meiner Antwort zufrieden sein. Denn damals hatte die Kultur der Gartenzwerge und der „unkrautfreien“ Rasen diese ferne Gegend noch nicht erreicht.
     Im letzten Sommer aber, als ich wieder einmal jenes Land an den Karpaten besuchte, konnte ich sehen: Die Gartenzwerge sind auch hier auf Vormarsch. Aus den Kasernen des grenznahen Großhandels ziehen ganze Armeen von ihnen los und erobern die Vorgärten der Vorstadthäuser. Dort stehen sie nun und lachen dich unentwegt an – selbstbewusst, wenn auch als Massenware und aus Kunststoff, doch siegesgewiss, als wüssten sie, dass bald auch diese vernachlässigte, östliche Welt erobert ist. Denn zu einem sauberen Rasen – das weiß man schon – gehört auch das zeitgemäße Idol vor dem Haus – ein Gartenzwerg, ein Statussymbol. Ein kleiner Mann, ein Europäer, vorwiegend heiter, der zuversichtlich in die Zukunft blickt. 



/c/ Claus Stephani, 2012

Mittwoch, 1. Februar 2012

Burgunder Notizen


/c/ dieter vandory, sonnenfänger & herzerwärmer, 2012




Ich glaube nicht an den Zufall.
Ich glaube an Begegnungen.
- Paul Claudel -











/à Bina/


Dies aufgerissene Land. Ächzend unterm sonnbestickten Julihimmel. Nichts als Hitze und Staub atmend. Eine einzige wabernde Wunde.
In den Weinbergen platzte die Süße aus den prallen Beeren. Das Laub verbrannte. Und Wortfetzen verdunsteten, kaum dass sie den trockenen Mündern entfallen waren.

Fiebernächte. Cassisumspült. Manchmal auch veredelt zum Kir Royal. Klebten auf der Haut und an den Giebeln der Fachwerkhäuser, während unter flammenden Dächern die Trägheit sich durch die Stadt und ihre Menschen schob.

Als der Himmel endlich auf die Erde gefallen war, stand sie am offenen Fenster. Die Wiese vor dem Studentenheim drohte zu ertrinken, die Bäume berauschten sich am Wind. Es krachte und gluckerte und schmatzte. Irrlichternd tanzte der filigrane Schein der Laternen durch die Dunkelheit.

Er aber kam mit dem Regen. Überraschend wie dieser, doch folgerichtig. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen.

Es klopfte. Sie erwartete niemanden mehr zu dieser vorgerückten Stunde. Vielleicht eine Kommilitonin, dachte sie, die noch Unterlagen braucht für die bevorstehende Übersetzungsklausur.
Sie öffnete, und die in Gedanken vorgeformten französischen Worte fielen in die kleine, sich vor ihren Augen ausbreitende Pfütze. Darin schwamm ein Paar Espadrilles, wie kenternde Schiffe, schoss es ihr in den Kopf. Ihr Blick glitt an durchnässten Hosenbeinen hoch, flog dann ihrem plötzlich rasenden Herzen hinterher. Stolperte über leicht geöffnete breite Lippen und fiel. Fiel ein in ein Dunkelmeer glänzender Augen, umrahmt von Brombeerhaar.
Ein Blitz schleuderte sein Sekundenlicht durchs Zimmer, und als die durchschnittenen Wolken wieder zusammenfanden, krachte die Tür ins Schloss.

Er stellte seinen vollgepackten Seesack ab, zog die durchnässten Schuhe aus. Sah sich suchend um und als er nichts fand, worauf sie hätten abgestellt werden können, legte er sie einfach außen aufs schmale Fensterbrett.
„Ist eh schon egal“, sagte er grinsend, als ihm ihr zweifelnder Blick begegnete.
Verschwand danach mit trockener Wäsche und einem T-Shirt im Bad. Er hat offensichtlich vor, zu bleiben, folgerte sie. Goss sich etwas Rotwein ein, der vom Abendessen übrig geblieben war, setzte sich aufs Bett und beschloss, nichts zu fragen. Viele, zu viele Fragen hatten ihn damals flüchten lassen. Unter anderem, ergänzte sie in Gedanken, und nahm einen Schluck. Als ihre Zähne ans Glas schlugen, merkte sie erst, dass sie zitterte.

Obwohl der Regen nachgelassen hatte, schwappte immer noch Kühle durchs geöffnete Fenster, legte sich auf ihre durch die Sonnentage aufgeheizte Haut, ich muss mir was anziehen, dachte sie, als sie sich ihrer nackten Arme und Beine bewusst wurde, und blieb einfach sitzen.
Das Brausen der Dusche von nebenan spülte ihre Gedanken rückwärts.

Eine Woche war es jetzt her, dass sie in der Mensa der Universität inmitten einer Gruppe fremdländischer Studenten einen jungen Mann erblickt hatte, dessen Ähnlichkeit mit Pierre so groß war, dass sie im ersten Augenblick hätte schwören können, er sei es selbst. Und der, wie sich dann herausstellte, sein Bruder war.
Niemals hatte Pierre ihr gegenüber erwähnt, dass einer seiner Brüder ebenfalls in Europa studierte. Geschweige denn im Burgund. Ausgerechnet in dieser Stadt, die sie sich aus mindestens zehn anderen aus ganz Frankreich für ihr Auslandssemester ausgesucht hatte.

Natürlich hatten sie über Pierre gesprochen. Natürlich hatte sie wissen wollen, wohin er gegangen war, nachdem er sie fluchtartig verlassen hatte. Und natürlich wusste der Bruder alles. Über sie. Über ihn. Über ihre Beziehung zueinander. Und auch noch einiges mehr, bei dem sich ihr Herz verkrampfte, selbst wenn sie es nüchtern und logisch betrachtete: er hatte eine neue Liebe gefunden, hier im Burgund.
Und als der Bruder nach einem langen Abend ihre Studentenbude verlassen hatte, lag ein Zettel mit Pierres Telefonnummer auf ihrem Tisch.

Nein, es gibt keine Zufälle, dachte sie jetzt wieder, während sich ihr Blick im Wein verlor.
Sie hatte ihn nicht angerufen. Sie wusste, dass er kommen würde. Sie wusste nur nicht, wann.

„Gibt es für mich auch einen Schluck?“
Im T-Shirt, darüber lässig ihren Bademantel gewickelt, stand er vor ihr.

Seit wann trinkst du Wein, wollte sie fragen. Reichte ihm stattdessen das Glas, ich habe kein zweites, sagte sie beinah entschuldigend. Er prostete ihr zu. Machte es sich danach neben ihr bequem. Rubinrot senkte sich die Stille zwischen ihre Hände.

Jetzt sitzen wir da, dachte sie, nach zwei Jahren sitzen wir einfach da, auf dem Bett in einem französischen Studentenheim, den Rücken zur Wand und trinken Wein.
Und die Worte lauern.

„Die Wahrheit liegt dahinter“, sagte er unvermittelt, so als habe er ihre Gedanken hören können. „Ach ja“, fragte sie, „und wo wäre das dann?“
„Hinter den Bergen. Den Meeren. Den Wüsten. Tausende von Kilometern weit weg“, antwortete er mit leiser, stockender Stimme.

„Und zwei Häuser von hier“, platzte es aus ihr heraus. Verdammt, dachte sie und kaute auf ihrer Unterlippe. Er lächelte und legte seinen Arm um sie. „Komm her und red keinen Unsinn“, sagte er, „ich meine etwas ganz anderes“.

Aber das hörte sie schon nicht mehr. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, ruhte endlich aus nach zwei Jahren sinnlosem sich Fragens. Und während Pierre langsam über ihr Haar strich, immer und immer wieder, so als ob er sie endgültig vertreiben wollte, die Fragen, gab sich ihr Ohr dem gleichmäßigen Rhythmus seines Herzens hin. Sie atmete seine Haut durch das dünne Shirt, Vanille, ja, immer noch Vanille, dachte sie, hatte ich das wirklich vergessen?

Dann folgte sie doch wieder seinen Worten, ließ sich mitnehmen auf eine Reise quer durch Europa.

„Ich konnte nirgendwo bleiben, verstehst du. Mein Studium war abgeschlossen, Aufbaukurse irgendwann auch längst uninteressant, ich fand keine Arbeit. Mehr und mehr fühlte ich mich fremd, bei dir in Deutschland genauso wie in Italien und jetzt hier in Frankreich. Überall spüre ich diesen zweifelhaften Wind, der zwar in seinem Innersten Freundlichkeit verspricht und mir letztendlich doch nur eisig entgegen schlägt. Und dann besinnt man sich, weißt du. Man hinterfragt. Wo komm ich her? Was sind meine Werte, für die ich einzustehen bereit bin. Wo will ich hin? Zu welchen Kompromissen bin ich bereit? Und ich habe mich entschieden“.

Ihr Herz stolperte. Was hatte er da gerade gesagt? Entschieden? Er hat sich entschieden? Und er ist bei mir. Sie wagte kaum zu atmen, derweil Pierre fortfuhr:

„Ich habe in mich gehört und da gab es stets nur eine Stimme, in all dem Lauten, Unwegsamen meines Lebens: die Stimme, die mich nach Hause ruft. Ich werde Europa verlassen, verstehst du, für immer“.

Ja, dachte sie. Und weiter, weiter. So sprich doch endlich. Sie zitterte, und ihre Finger verkrampften sich in fiebriger Erwartung.

„Ich werde in mein Land gehen und versuchen, das im Westen erworbene Wissen für diejenigen einzusetzen, die jenseits von Recht und Gerechtigkeit leben. Als Anwalt hab ich dabei gute Chancen. Dieses Land, eines der ärmsten der Welt, wollte und will ich dir nicht zumuten. Du könntest dort nicht leben. Es ist nicht deine Welt, und ich wäre dort wohl auch ein anderer als hier. Das allein war der Grund, dich zu verlassen.“

Der Regen hatte aufgehört. Seit wann wohl, fragte sie sich, nachdem Pierre seinen Bericht beendet hatte.

Ich sollte das Fenster schließen, sagte sie sich, es ist kalt geworden. Und widersprechen sollte ich ihm. Erklären, dass mich nichts halten würde, mit ihm zu gehen. Würde ich das wirklich wollen? Den Nachsatz konnte sie nicht ignorieren, aber da sie keine Antwort wusste, schwieg sie.

Und dann berührte sie ihn. Berührte ihn so, wie er es sie gelehrt hatte. Ihre Hände trugen noch das Muster seiner Haut, erinnerten sich und fanden die vertrauten Wege wieder.

Als sie am nächsten Morgen erwachte und ihren Arm suchend nach Pierre ausstreckte, griff sie ins Leere. Sie fuhr hoch, der Platz neben ihr war leer. Ihr Blick durchflog das Zimmer. Die Weinflasche stand noch auf dem Tisch, daneben das Glas, ihr Bademantel lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Stuhl, der Seesack war verschwunden. Sie rieb sich die Augen, hab ich geträumt, fragte sie sich, und stand auf. Ging langsam Richtung Bad. Rief seinen Namen. Öffnete die Tür. Der Raum war kalt und leer. Sie stellte sich unter die Dusche und unter dem warmen Strahl trat ihr der Schmerz durch die Augen. Vermischte sich mit dem Wasser, das an ihr herabfloss, und versickerte lautlos.

Als sie später zur Universität ging, schwenkte ihr Blick für einen Moment hinauf zum Fenster ihres Zimmers. Auf dem Sims sonnte sich ein Paar Espadrilles unterm blauen Julihimmel.



/c/ monika kafka, 2012

Freitag, 6. Januar 2012

Traum_Wanderung


/c/ Dieter Vandory, Verschlungene Wege, 2012









Nachts mache ich mich manchmal auf den Weg.
Im Schutz der Dunkelheit suche ich nach etwas, was es nicht mehr gibt.
Ich werde also niemals ankommen, aber das ist ganz gut so.
Ich kann niemals enttäuscht werden. Laufe keine Gefahr, als Fremde vor einem fremd gewordenen Ort zu stehen. Als eine, die aus der Zeit und der Szene gefallen ist.

Ich gehe langsam. Lausche, rieche, schmecke.

Im Winter den brandigen Geruch von Holzfeuer über schneebedeckten Tannen. Das tiefe Stöhnen des Waldes. Den verirrten Flügelschlag eines Vogels. Und ich sehe einen Himmel, der es aufgegeben hat, seine Sterne zu zählen. Ich verliere mich regelmäßig darin.
Meine Beine werden seltsam schwer und ich versinke, bevor ich das Dorf erreichen kann.

Im Sommer aber, wenn der Wald die warmen Tage ausatmet und der Boden den Schritt federt, kann es gelingen. Dann sehe ich das Kind auf dem altmodischen ausgeklappten Sessel wieder. Durchs geöffnete Fenster rauscht der Maulbeerbaum den Sonnentag in die kleine Stube. Greift mit seinen Armen nach dem krank daliegenden, als wolle er es hinaus ziehen. Zu den gackernden Hühnern und schnatternden Enten. Zu den Blumen und dem frechen Jakob, den Großmutter durch den Winter gebracht hatte. Sein Flügel war verheilt und bald würde er wieder zu den anderen Raben zurückkehren. Solang Großmutter noch mit ihm schimpft und danach unbekümmert ihre Lieder in der Küche singt, weiß das Kind, dass die Welt in Ordnung ist. Trotz Ziegenpeter und Kamillentee.
Ihre Stimme legt sich samtig um den schmerzenden Hals, glättet die rissigen Wunden, und aus dem Märchenbuch steigen später die Feen und Zwerge herauf und nehmen das Kind mit in ihr Reich.

Und dann kommt Mutter. Mit ihren Gesundmachhänden, die sie unter der Woche anderen Kranken leiht, schiebt sie die Fieberträume wie einen Vorhang zur Seite. Sie perlen von der heißen Stirn und der kühlende Atem vertreibt jeden Schmerz.

Nachts mache ich mich manchmal auf den Weg.
Heut ist es wieder soweit.
Ob Mutters Hände mich ein Mal mehr heilen können?



/c/ Monika Kafka, 01/12


Mittwoch, 28. Dezember 2011

Unverhofft


/c/ Dieter Vandory, zwei, 2011




„Darf ich noch reinkommen?“
Ihr schwarz umrandeter Blick stolperte den Worten hinterher. Fiel durch den Türspalt auf meine Schuhe. Hangelte sich langsam hoch, bis er meinen fand. Und setzte sich darin fest.
Ich öffnete die Tür. Müde löste sich ihr schmaler Rücken vom Rahmen. Ich trat ein paar Schritte zur Seite und ließ sie ein. Treten in mein für ein paar Tage geborgtes Domizil. Sie bewegte sich nervös, fast ungelenk. Der Mantel sprang auf und ich sah, dass sie darunter noch das kleine Schwarze trug. Sie hatte sich also nicht umgezogen nach ihrem Auftritt.
Ich schloss die Tür. Ging zur Bar und goss mir langsam einen Whiskey ein.
„Willst du auch einen?“, fragte ich mit belegter Stimme.
Sie nickte nur, während sie Mantel und Handtasche aufs Sofa gleiten ließ. Ging aufs Fenster zu.
„Schöne Aussicht von hier oben“, sagte sie und lächelte, „wäre es nicht schon dunkel.“
„Ja, und jetzt ist sie wenigstens nicht mehr laut.“ Ich lachte heiser. Räusperte mich.
„Hier, dein Whiskey.“
Wir prosteten uns zu.
Ihre Finger, diese feingliedrigen samtumhüllten Kunstwerke. Sie hatten Spuren auf meiner Haut hinterlassen. Niemals zu Ende gegangene Wege. Wege durch Gletschereis und Wüstensand. Immer schön abwechselnd, dachte ich bitter. Schluckte tief und trocken. Brannte das Getränk meine Kehle hinunter. Und die Frage, was will sie? 
Als ihre Lippen das Glas berührten, färbte sich die Stille rot. Und ihre Augen lagen darin wie glimmende Kohle. „Das ist gut“.
Sie nickte anerkennend der goldgelben Flüssigkeit zu.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte sie unvermittelt. Drehte sich kurz weg, um das Glas auf dem Schreibtisch abzustellen. Als sie danach meinen verständnislosen Blick auffing, fügte sie hinzu: „Zum Konzert, meine ich.“
„Du warst phantastisch“, entgegnete ich. „Unglaublich, wie deine Stimme gereift ist. Die tiefen Töne vibrieren förmlich. Sie sind rund und doch rau, man kann Abgründe dahinter erahnen.“
Sie winkte ab. „Ach was, in Wahrheit bin ich einfach nur alt geworden und muss mein Repertoire danach ausrichten. Aber es freut mich dennoch, dass es dir gefallen hat. Und woran arbeitest du gerade?“, fragte sie und deutete auf meinen Laptop. „Ich habe dich doch hoffentlich nicht gerade dabei gestört, deinen Protagonisten ins Jenseits zu befördern?“
 Der leise Spott in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Ich habe einen neuen Gedichtband publiziert, deshalb bin ich auch in dieser Stadt. Der Verlag ist der Ansicht, dass Signierstunden dem Verkauf förderlich seien … Na ja, davor lese ich natürlich auch. Du siehst“, sagte ich, „der Zufall hat uns zusammengeführt nach so langer Zeit. Der Zufall und die Kunst.“
„Ist das nun gut oder schlecht? Ich meine, glaubst du an die Strategie des Verlags?“
Sie blickte mich lauernd an. Ich war überzeugt, sie hatte längst bemerkt, dass meine Selbstsicherheit nur eine gespielte war. Dass meinen Lippen Worte entkamen, die nicht mit meinen tatsächlichen Gedanken überein stimmten. Bevor ich antwortete, nahm ich einen tiefen Schluck von meinem Whiskey. Er war in meiner Hand bereits warm geworden.
„Ja, warum auch nicht?“, flüsterte ich und sah sie unverwandt an.
„Ich müsste mal … dringend“, sagte sie und blickte sich fragend um.
„Geradeaus und dann links“, antwortete ich und ließ mich auf die Couch fallen. Hoffte, die kurze Zeitspanne, in der sie nicht anwesend war, nutzen zu können. Meine Gedanken zu sortieren, die längst nicht mehr um die Frage kreisten, was sie denn eigentlich wollte. Sondern darum, wo ich in dieser Situation stand. Und meine Pappmacheebeine zu entlasten. Das war doch nicht möglich, dachte ich immer und immer wieder.
Wie zerbrechlich sie doch wirkte. Und abgespannt. Wie nach einem langen beschwerlichen Weg, der nichts mit dem heutigen Auftritt zu tun hatte. Ich wusste um ihre Schatten. Um ihr Straucheln. Ihre Verzweiflung. Wir waren einander nah geblieben. Im Wort. Und den Rest erfuhr ich aus der Presse. Die war ja schon immer gnadenlos. Das wusste ich mittlerweile selbst zur Genüge.
Ich stand auf, schenkte mir nach. Wunderte mich. Sie blieb schon zu lange weg. Die Tür zum Bad war nicht ganz geschlossen. Alles in Ordnung, fragte ich und spähte hinein. Sie stand aufgestützt am Waschbeckenrand, den Blick im Spiegel verloren. „Endlich“, sagte sie und drehte sich langsam um.
Ihre Lippen schmeckten nach Walderdbeeren und bitterem Verzicht. Meine Hände legten die Röte frei. Blattunter nistete die Wärme des Wüstensandes. Ließ Gletscher schmelzen. Ihre Brüste wölbten sich mir entgegen. Und in unseren Atem mischte sich die Melodie des ewigen Windes, der Glimmendes entfacht zum zügellosen ...
Es klopfte.
„Ihr Taxi, Madame, es wartet.“
Amy Sörensen klappte das Buch zu, ergriff ihren Koffer und verließ das Hotelzimmer.



/c/ Monika Kafka, 12/2011