„Am Anfang war das Wort, doch am Ende wird die Lüge sein, und die Lüge wird sein wie das Wort, in einem Gewand aus falschem Leinen, und man wird ihr glauben und meinen, sie ist das Wort“, sagte Rabbi Schmuel von Oberwischau vor gut zweihundert Jahren.
Was aber hat es auf sich mit den Worten, diesen seltsamen Gebilden, die uns umso mehr abhandenkommen, je verzweifelter wir sie suchen? Die sich einmal scheu und zerbrechlich geben wie ein junges Mädchen vor der ersten Blüte, ein andermal sich zieren und umworben werden wollen wie eine alternde Diva. Vielleicht stimmt beides und auch wieder nicht, vielleicht muss man sie einfach im Stillen reifen lassen, bevor sie uns ihre volle Süße offenbaren so wie ein später Sommertag.
Und wenn es dann auch noch gelingt, die sieben Tore zur Erinnerung zu durchschreiten, wird man sie finden, die Worte, mit denen sich Geschichten erzählen lassen, anrührend und zärtlich, poetisch und wahr_haftig, weil sie weit entfernt von einem Ende sind.
Das ist Claus Stephani in seinen „Erzählungen aus verschwiegenen Zeiten“, so der Untertitel seiner neuesten Publikation „Vor dem letzten Augenblick“, auf wunderbare Weise gelungen.
Drei Erzählungen sind es, die als Vorgriff auf ein umfangreicheres Buch bei Hans Boldt als „Winsener Heft 35“ erschienen sind.
In ihrem Mittelpunkt steht jeweils eine andere Frau:
Judith, „das Geschenk eines zärtlichen Sommers“, Anna, die gebildete Französischlehrerin und schließlich Joana, die Frau ohne Nachnamen, vom liebenden Adam, der in Wahrheit ebenfalls einen anderen Namen hat, Apfelblüte genannt. Das Verbindende dieser Begegnungen aber, die das Erzähler-Ich geprägt und sein Heranreifen zum Mann auf unterschiedliche Weise begleitet haben, ist die Sprache.
Vom Nicht-Sagen-Können, weil die Worte fehlten oder unbeholfen waren, über ihren Missbrauch in einem totalitären Regime, dem Schwanken zwischen einer Mutter- und einer Vatersprache und dem Schweigen, das unweigerlich zum Verschweigen führt, spannt sich der Bogen, geografisch eingebettet unter den teilnahmslosen Augen der Corona, jener Stadt im fernen Siebenbürgen, die schon zu viel gesehen hat, um sich darüber noch zu wundern.
Bildreich und unaufdringlich erzählt Claus Stephani selbst von unangenehmen Wahrheiten, von einem Regime, dessen medusenähnliche Tentakel heute noch Gift verspritzen, auch wenn sie in Aktenordnern eingesperrt scheinen. Der Teufel, der Sched, spielt weiterhin seine Geige. Wenn es auch immer wieder eine neue Melodie ist.
Angereichert sind die Texte mit Worten der Alten und Weisen aus einer untergegangenen Welt voller Mythen und Zauber, einer Welt, die dem Ethnologen Dr. Claus Stephani bestens vertraut ist.
„Diese Erzählungen habe ich hervorgeholt, um sie zu verschenken. An jeden, der sie hören will.“
Mögen sie ein breites Publikum erreichen.
Kursiv gesetzte Zeilen sind Zitate aus:
Claus Stephani
Vor dem letzten Augenblick
Winsen/Luhe, 2012
978-3-928788-74-8
Im Literaturverlag Hans Boldt erschien ferner:
Claus Stephani
Stunde der Wahrheit
Erzählungen
Winsen/Luhe, 2007
978-3-928788-61-8